Menschenrechtler in türkischer U-Haft
Die Verhaftung von zehn Menschenrechtsaktivisten in der Türkei vor zwei Wochen hat die Spannungen zwischen der Türkei und der EU weiter wachsen lassen. Sechs von ihnen sind nun in Untersuchungshaft, darunter die Landesdirektorin von Amnesty International, ein deutscher und ein schwedischer Berater. Europas Presse diskutiert Hintergründe und mögliche Reaktionen.
Jetzt ist Haltung gefragt
Die EU-Staaten müssen Erdoğan gegenüber härter auftreten, fordert Dagens Nyheter:
„Die geopolitische Schlüsselposition der Türkei verschafft Präsident Erdoğan eine starke Verhandlungsposition. Das Land ist Natomitglied und eine wichtige Basis im Kampf gegen den Islamischen Staat. Außerdem hat die EU sich durch den Flüchtlingsdeal von Ankara abhängig gemacht. Das erschwert harte Forderungen. Trotzdem ist eine klare und gemeinsame europäische Haltung für die inhaftierten EU-Bürger und gegen Erdoğans autoritäre Tendenzen gefragt. ... [Auch] ist nicht anzunehmen, dass die Präsidentschaftswahl 2019 unter gerechten Bedingungen stattfinden wird. Die Stimmen Schwedens und Brüssels müssen deutlicher werden.“
Westen hat Türkei allein gelassen
Aus Sicht von Daily Sabah trägt der Westen die Hauptschuld an den zerrütteten Beziehungen zur Türkei:
„Als westliche Organisationen wie EU, Nato und UN in der Nacht des Putschversuches schwiegen, fühlte sich das Volk allein gelassen und man nahm sich gegenseitig an den Händen. Man klammerte sich noch fester aneinander, als für den Putsch verantwortlich geglaubte Soldaten auf US-Basen oder in EU-Staaten wie Griechenland und Deutschland Zuflucht fanden. ... Der Lauf der Dinge hat die Türkei, die seit Gründung der modernen Republik ein Jahrhundert lang zum Block des Westens gehörte, an einen Scheideweg gebracht. Der Weg, auf den Ankara zusteuert, ist aber nicht nur im Begriff, die EU-Beitrittsgespräche zu beeinflussen, sondern auch die türkische Beziehung zu Organisationen wie der Nato, die hohe symbolische Bedeutung hat.“
Europäische Türkei-Politik ist falsch
Bereits im Juni war der Türkei-Vorsitzende von AI festgenommen worden. Libération veröffentlicht einen Appell von Menschenrechtlern an die Türkei:
„Die Festnahme dieser zehn anerkannten Menschenrechtler markiert eine neue Etappe im autoritären Abdriften der türkischen Regierung. Zum ersten Mal in der Geschichte von Amnesty International wurden zwei führende Mitarbeiter im gleichen Land inhaftiert - binnen weniger als einem Monat. In der Türkei kann sich kein Menschenrechtler mehr sicher fühlen. Allein verantwortlich für das Abdriften sind die türkischen Machthaber. Aber die fehlende beziehungsweise zurückhaltende Reaktion unserer europäischen Regierungen, insbesondere der französischen, erleichtert dieses Abdriften erheblich, ja begünstigt es vielleicht sogar. Damit muss endlich Schluss sein. Es ist Zeit, wieder die Menschenrechte in den Mittelpunkt der EU-Türkei-Beziehungen zu stellen.“
Flüchtlingsdeal endlich aufkündigen
Für die Unesco-Sondergesandte Beate Klarsfeld und den Präsidenten vom European Grassroots Antiracist Movement, Benjamin Abtan, ist es höchste Zeit, den Flüchtlingsdeal mit Ankara aufzukündigen, schreiben sie in Público:
„Diese Vereinbarung ist vollkommen nutzlos. Erdoğan nutzt dieses Abkommen aus, um dem von Europa ausgeübten Druck zu entkommen, während er ein immer autoritäreres Regime aufbaut. ... Weder Deutschland noch Europa brauchen Erdoğan, um die Ankunft der Flüchtlinge in Europa zu verhindern. Es ist Erdoğan, der die Flüchtlinge braucht, die sich im Südosten der Türkei niedergelassen haben, um sie für seine Unterdrückungspolitik gegenüber der nationalen Bewegung der Kurden zu benutzen. ... Dieses Abkommen offenbart außerdem auch einen Mangel an Souveränität der Europäer, die nicht in der Lage sind, der von ihnen gewählten Politik ohne die Hilfe von Staaten wie der Türkei Respekt zu verschaffen.“
Beweise müssen auf den Tisch
Hürriyet fordert die türkische Justiz zu Transparenz auf, damit sich ihr Ansehen im Ausland nicht noch weiter verschlechtert:
„Es heißt, [die Menschenrechtler] seien verhaftet worden, damit sie in Verhandlungen als Pfand eingebracht werden können, es heißt, die Justiz würde instrumentalisiert. ... Falls das stimmt, wissen unsere Polizisten, Staatsanwälte und Strafrichter nicht, dass wir uns ins eigene Fleisch schneiden? ... Wie sehr es das Vertrauen in die Fetö-Prozesse [gegen Gülen-Anhänger] erschüttert und welch großen Schaden wir diesem Kampf zufügen? Und dass es denen einen Trumpf in die Hand spielt, die unsere Justiz diffamieren wollen? ... Handfeste Indizien müssen offengelegt werden, bombensichere Beweise müssen auf den Tisch, es muss der Welt gezeigt werden, wer Spion, wer Terrorist und wer Menschenrechtler ist. Das wäre eine saftige Lektion für die deutschen Medien.“
Früher gab es wenigstens noch Hoffnung
Die Süddeutsche Zeitung sieht sich an die Menschenrechtslage nach dem Militärputsch 1980 erinnert:
„Massenverhaftungen, Folter - sogar Hinrichtungen waren damals zu beklagen. Viel fehlt in der Türkei des Jahres 2017 nicht mehr, um daran anzuknüpfen. Wenn Erdoğans Anhänger auf der Straße zusammenkommen, haben manche schon den Strick dabei. In die Amnesty-Geschichte geht die Türkei 2017 als jenes Land ein, das sich als erstes traute, gleich beide Spitzenfunktionäre im Land zu verhaften. Die Lage heute ist in der Rückschau in gewisser Weise bedrückender als jene in den 80er- und 90er-Jahren. Denn damals waren es die Europäische Union und die Aussicht auf einen Beitritt, die das Land zwangen, sich zu verändern, sich zu bessern. Nur: Immer wenn Brüssel heute die Hand ausstreckt, dimmt Erdoğan das Licht eben noch ein Stück weit herunter.“