Deutschland und der AfD-Schock
Erstmals wird im deutschen Bundestag eine rechtspopulistische Partei vertreten sein. Mit 12,6 Prozent wurde die Alternative für Deutschland (AfD) bei der Wahl am 24. September drittstärkste Kraft. Journalisten versuchen auszuloten, welche Folgen das auf die deutsche Politik haben wird. Dabei gehen sie auch der Frage nach, wer Verantwortung für das starke Abschneiden der Rechten trägt.
Willkommen im Klub der Problemkinder
Nun muss sich Deutschland endlich auch im eigenen Land mit den Kräften des Rechtsextremismus und Populismus auseinandersetzen, freut sich die Historikerin Anne Applebaum in The Washington Post:
„Deutschland ist nicht länger der fromme Außenseiter. Das ist vielleicht gut so. In Deutschland hatte sich ja zuletzt ein Gefühl moralischer Überlegenheit breitgemacht. Gegenüber Frankreich, Polen und anderen Nachbarn mit ihren rauen, nationalistischen Politikern. Und gegenüber den USA mit ihrer nicht funktionierenden Regierung. Dieses Gefühl wird nun rasch verschwinden. Deutschland ist nun eines unter vielen Ländern, die mit ähnlichen Problemen kämpfen. ... Das ist wichtig, weil die deutsche Politik zum Teil selbst für die problematischen Stimmungen verantwortlich ist, etwa bei den Themen Flüchtlinge und Finanzen. Zumindest nehmen es viele so wahr. Nun muss sich auch Deutschland diesen Problemen stellen.“
Moskau hatte seine Finger im Spiel
Bei dieser Wahl war der Einfluss des Kremls nicht besonders auffällig aber durchaus zielführend, kommentiert der britische Journalist Edward Lucas für BNS:
„Besonders einen großen Teil der Wähler der bayerischen CSU konnte Moskau mit einer Mischung aus Propaganda und anderen Taktiken verführen. Es geht um etwa 4 Millionen Deutsch-Russen, die mal konservative Wähler der Union waren aber nun ins Lager der russlandfreundlichen und rechtsradikalen AfD gewechselt sind. Das hat sich gelohnt. ... Russland hat nun drei Parteien, die es zu seinen Gunsten beeinflussen kann. Dazu zählen die nun stärker geschwächte SPD, die pro-russische Linke und die anti-islamische AfD. Leider kann man hier und da auch die FDP dazuzählen, nachdem sie sich positiv in Bezug auf eine Anerkennung der Krim-Annexion geäußert hat.“
Willkommen in der Wirklichkeit
Für den Tagesspiegel offenbart der Einzug der AfD in den Bundestag nur, was in der Bevölkerung schon lang rumort:
„Der Gefühlsstau hat sich entladen. Das macht den demokratischen Diskurs rauer. Offener Rassismus und Geschichtsrelativismus war bislang ein Randphänomen, aber der versteckte, verheimlichte war es nie. Vorbei ist es mit der Gemütlichkeit, die durch das Ausblenden des Hässlichen lange Zeit möglich war. Vorbei mit der Behaglichkeit und dem Selbstbetrug, der in dem Glauben bestand, die Welt würde wie von selbst und ohne Widerstände stetig besser werden. Willkommen also in der Wirklichkeit! Willkommen in einem unvollendeten Projekt! Willkommen in einem Land, in dem nicht jeder von allen willkommen geheißen wird!“
Ausgegrenzte sind für Radikale leichte Beute
In einem größeren Kontext sieht Journalist Matija Stepišnik das gute Abschneiden der AfD und schreibt in seiner Kolumne für RTV Slo:
„In den sozial zerstörten Regionen Europas gibt es immer mehr Menschen, die im dominanten Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell des (neo)liberalen Europas keine Perspektive sehen. Ungleichheit und soziale Ausgrenzung sind der Nährboden für politische Kräfte wie die AfD, die in Wirklichkeit eine noch größere Wählerbasis haben, auch unter den wohlhabenderen Menschen. Auf die Flüchtlingskrise und die mit ihr verbundene Unsicherheit hat die politische Elite diesen Menschen nicht überzeugend genug geantwortet, um Ängste und Vorurteile abzubauen und Dilemmas aufzulösen. So wird der Kreis der Menschen, die für die gefährliche Koalition der Radikalen leichte Beute sind, immer größer.“
Empörung über AfD ist willkommene Ablenkung
Selbstkritik statt AfD-Kritik empfiehlt die Neue Zürcher Zeitung:
„Die drei Buchstaben AfD beherrschen den politischen Diskurs, obschon die nicht koalitionsfähigen Neuankömmlinge im Bundestag einen denkbar geringen direkten Einfluss auf die Bundespolitik haben werden. Immer und immer wieder kamen Journalisten und Spitzenpolitiker in den ersten Diskussionsrunden auf das Gespenst der AfD zu sprechen. Das ist aus ihrer Sicht leicht nachvollziehbar. Es eignet sich so wunderbar, um von den eigenen Problemen abzulenken. Deutschland nützt die grosse öffentliche Aufregung aber wenig ... Die etablierten Parteien täten besser daran, sich mehr mit sich selbst als mit dem 'Skandal' der AfD zu beschäftigen.“
Die ruhigen Zeiten sind vorbei
Deutschland ist nicht mehr der politische Ruhepol, der es einmal war, meint Expressen:
„Angela Merkels Sieg hat einen bitteren Nachgeschmack. Durch ihre Politik konnte erstmals eine rechtsnationale Partei in den deutschen Bundestag einziehen und drittgrößte Partei werden. ... Ihre Entscheidung aus dem Jahr 2015, die Grenzen für eine Million Flüchtlinge und Migranten zu öffnen, ermöglichte es der AfD, so stark zu werden. ... Alexander Gauland, eine der Führungsgestalten der AfD, versprach in seiner Rede, man werde 'Merkel jagen' und 'unser Land zurückerobern'. Solche Ausdrucksweisen sind wir von deutschen Politikern nicht gewöhnt. ... Viele hatten über einen langweiligen deutschen Wahlkampf geklagt. Das Ergebnis ist nun keineswegs langweilig ausgefallen. Die Welt war bisher eine stabile deutsche Politik gewohnt, eine Politik ohne sonderliche Dramatik. Diese Zeiten sind wohl vorbei.“
Ein Tabu ist gebrochen
Dass zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs eine ausländerfeindliche Partei in das deutsche Parlament einzieht, beunruhigt La Repubblica:
„Selbst wenn wir heute in einer anderen Welt leben und Berlin das Herz der europäischen Demokratie ist, weckt das Ereignis doch unvermeidbare historische Erinnerungen. ... Seit der Geburtsstunde der Bundesrepublik konnte keine politische Gruppe rechts der [CDU-Schwesterpartei in Bayern] CSU die Fünf-Prozent-Hürde für den Einzug in den Bundestag überschreiten. Das Tabu, das von der Geschichte auferlegt schien, ist nun gebrochen. Es ist ein Ereignis, das die deutsche Demokratie beunruhigt und das Europa kaum gleichgültig lassen kann. Dort gibt es seit geraumer Zeit zwar ausländerfeindliche Bewegungen und Populisten, doch man schätzte gerade die deutsche Ausnahme, weil man dachte, sie trüge der Vergangenheit Rechnung.“
Rechtspopulisten bleiben isoliert
Die AfD ist weit davon entfernt, eine entscheidende Rolle zu spielen, beruhigt The Guardian:
„Zu behaupten, dass jetzt die Geister der Vergangenheit nach Deutschland zurückkehren, wäre übertrieben. Deutschland ist eine stabile Demokratie. Es setzt ganz klar auf das europäische Projekt. Die populistischen Kräfte haben es in Deutschland nicht geschafft, die Politik auf den Kopf zu stellen, wie es in den USA unter Donald Trump und in Großbritannien mit dem Brexit passiert ist. Die AfD zieht ins Parlament ein, aber sie stellt nicht die Regierung. Sie wird eine Ausnahmeerscheinung bleiben, wenn auch eine laute und abstoßende. Sie wird nicht der bestimmende Faktor in Deutschlands Außen- und Europapolitik werden. ... Die AfD bleibt politisch isoliert.“
Verteufelung der AfD hat sich gerächt
Union und SPD wurden von den Wählern in verschiedener Hinsicht abgestraft, bemerkt Lidové noviny:
„Zwar wollten die Wähler nichts an ihrem prosperierenden Land ändern - deshalb hat Merkel gewonnen. Die Zahlen zeigen aber freilich ein gemischteres Bild: Die Union gewann, aber mit dem schlechtesten Ergebnis seit 1949. Ähnlich ungünstig sieht die Situation für die SPD aus. Damit wurde die Regierung für ihr Experiment der offenen Grenze abgestraft, für das Gefühl vieler, dass aus Deutschland ein 'lichtes Volk' werde. Vor allem aber wurde die große Koalition dafür abgestraft, dass sie ihre Kritiker und Gegner in die Ecke gestellt hat. Je mehr man die Kritiker als Populisten und Extremisten verurteilte, umso stärker konnten sie bei den Wählern punkten.“
Kampf gegen die Feinde der Demokratie beginnt
Der frühere Berlin-Korrespondent der Gazeta Wyborcza Bartosz Wieliński befürchtet, dass auf Deutschlands demokratische Politiker ein harter Kampf wartet:
„Die AfD wird das Parlament in Freunde und Feinde einteilen (so wie das bei uns die PiS-Partei getan hat): in bessere und schlechtere Deutsche, in Patrioten und Verräter. In dieser Atmosphäre kann man keinen gemeinsamen Nenner finden. Die Parteien werden kämpfen müssen, aber die Deutschen können das. ... Es ist zu erwarten, dass die AfD jetzt die liberalen Medien, die Justiz und andere demokratische Institutionen angreifen wird. ... Die Politiker werden sie vom ersten Tag an verteidigen müssen. In Deutschland beginnt ein Kampf gegen die Feinde der Demokratie.“
Was Merkel jetzt tun muss
Merkel muss jetzt vor allem fünf Prioritäten setzen, um ein weiteres Erstarken der AfD zu verhindern, findet Večernji list:
„Erstens: 260.000 illegale Einwanderer abschieben. ... Zweitens: die Einreise nach Deutschland und in die EU strenger kontrollieren. ... Drittens: Geflüchtete klar von Wirtschaftsflüchtlingen trennen. ...Viertens: den Graben zwischen Arm und Reich nicht noch breiter werden lassen. ... Und fünftens: die EU reformieren. ... Denn wenn all das nicht geschieht, könnten die Radikalen nach der nächsten Wahl den Bundestag übernehmen.“