Was lehrt uns Putins Rede zur Lage der Nation?
Vor der russischen Präsidentschaftswahl beschäftigen sich Medien in Osteuropa weiter mit Putins Rede zur Lage der Nation. Anfang März hatte dieser in einer Video-Präsentation unter anderem neue russische Atomwaffen vorgestellt. Für Kommentatoren war das multimediale Säbelrasseln höchst aufschlussreich.
Krippen, Renten oder Säbelrasseln
Nun ist es spannend, welche Konsequenzen die Öffentlichkeit aus der Diskussion um Putins Rede zieht, findet Radio Kommersant FM:
„Die gründliche [mediale] Analyse der Arbeit der Rüstungsindustrie wird den Bürgern auch deshalb gefallen haben, weil der Oberkommandierende ihnen erklärt hat, wohin all das Geld fließt - also ihre Steuern. Und da die anderen Haushaltsposten sowieso öffentlich sind, kann jeder, der lesen und denken kann, nun selbst entscheiden, was ihm wichtiger ist: Gesundheitswesen, Straßen und Krippen, lächerliche Renten oder die Möglichkeit, die USA einzuschüchtern. Journalisten stellen - natürlich abhängig von Anstand und Professionalität - das Problem unterschiedlich dar. Die Schlussfolgerungen daraus zieht jeder selbst.“
Über den Verlust der UdSSR noch nicht hinweg
Für den russisch-ukrainischen Journalisten Iwan Jakowyna ist Putins Rede zur Lage der Nation Ausdruck von dessen UdSSR-Nostalgie. Er schreibt in Nowoje Wremja:
„Die gesamte Ex-UdSSR hält er für Russland, dem Territorium, Menschen usw. gestohlen wurden. Dass es mittlerweile unabhängige Staaten gibt, geht ihm nicht in den Kopf. In seiner Welt gibt es einfach keine Ukraine, kein Lettland, kein Kasachstan. Es gibt es nur die 'russischen Verluste'. Sein gesamtes Leben ist ein einziger Schmerz über die Auflösung der Sowjetunion. Im Grunde versucht er, diesen Schmerz mit allen Mitteln zu betäuben. Die sowjetische Hymne, pompöse Paraden auf dem Roten Platz, die Eurasische Union, die Annexion der Krim, der Krieg in Syrien, die Abkehr von der Demokratie, der Konflikt mit dem Westen - alles nur Facetten des gleichen Putinschen Wunsches: die UdSSR aus dem Grab herauszuholen.“
Brandgefährliche Atom-Drohung
Putins Drohung weckt gefährliche Erwartungen, konstatiert der Tages-Anzeiger:
„Am Vorabend seiner vierten Amtszeit verkörpert Putin selbst den Stillstand. Aber ein Sieg über den alten Rivalen USA wirkt immerhin wie ein Trost, selbst wenn er nur in der Computergrafik zustande kommt. Vorerst. Denn das leichtfertige Reden von einem Atomschlag ist brandgefährlich. Dabei kommt es gar nicht so sehr darauf an, ob Wladimir Putin blufft oder ob er wirklich über die gepriesenen Wunderwaffen verfügt. In jedem Fall weckt er Erwartungen beim Publikum. Der russische Dramatiker Anton Tschechow hat dieses Gesetz so beschrieben: Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, muss es spätestens im letzten auch abgefeuert werden. “
Die Welt darf das nicht hinnehmen
Die Welt darf diese Provokation nicht hinnehmen, findet El Mundo:
„Nur zwei Wochen vor der Präsidentschaftswahl hat der absehbare Gewinner Wladimir Putin seinen Wunsch in Szene gesetzt, den Kalten Krieg wieder aufzunehmen. Er bricht die Verträge, die 1987 das Ende des Kalten Kriegs besiegelten und zu einer allmählichen Abschaffung der Kurz- und Mittelstreckenraketen verpflichten. Und er fordert die USA mit erschreckend kriegerischen Tönen heraus. Vor den Kameras des gesamten Landes präsentierte Putin seine neuen Nuklearwaffen mit fast 'grenzenloser' Reichweite, beschuldigte Trump, das 'strategische Gleichgewicht' zerstört zu haben und lobte das russische Potenzial. Die internationale Staatenwelt kann solch eine Provokation, die die Stabilität und den Frieden der Welt untergräbt, nicht dulden.“
Kalte Dusche für Amerikas Hitzköpfe
Die Schockwirkung von Putins Rede wird sich als friedensstiftend entpuppen, ist sich die staatliche Nachrichtenagentur Ria Nowosti sicher:
„[Sie ist] eine Art politischer Feuerlöscher, mit dessen Hilfe der russische Präsident die hitzigen Köpfe in der Polit- und Militärelite der USA abgekühlt hat. Die Hysterie, die in den nächsten Tagen unvermeidlich bei westlichen Medien, Politikern und Expertenkreisen aufkommen wird, ist der beste Beweis dafür, dass die Botschaft ihr Ziel getroffen hat. Mögen die westlichen Medien und Politiker Putin auch vorwerfen, die Außenpolitik zu militarisieren und ein neues Wettrüsten zu starten - die Präsidentenansprache mit der Liste neuer russischer Waffensystemen ist ein Garant dafür, dass der nächste Weltkrieg auf unbestimmte Zeit verschoben wurde.“
Bloß eine Show fürs russische Publikum?
Die Politologin Olessja Jachno hält unterschiedliche Interpretationen für möglich. Sie schreibt in Ukrajinska Prawda:
„Es bleibt noch zu verstehen, ob Putins Botschaft an den Föderationsrat vielleicht nur Bluff oder Rhetorik war. Oder ob sie den Kurs der russischen Regierung nach der Wahl vorskizziert. Ein Kurs, dessen Ergebnis ein größerer ökonomischer wie politischer Isolationismus der Russischen Föderation wäre, vor dem Hintergrund eines gesteigerten Militärpotentials. Sollte sie reine Rhetorik sein, so richtete sie sich ausschließlich an das innerrussiche Publikum. Denn die Zeiten sind vorbei, in denen der Kreml hoffte, den geopolitischen Spielern einen neuen Pakt aufzwingen zu können, indem er den eigenen Einsatz erhöhte und sich in diverse Konflikte einmischte.“