Wohin steuert Italien nach der Wahl?
Etwa die Hälfte der italienischen Wähler hat bei der Parlamentswahl für Anti-System-Parteien gestimmt. Jedoch verfügt keine über eine Regierungsmehrheit, weder das Movimento 5 Stelle noch das Bündnis dreier rechts-konservativer Parteien mit der durch die Wahl besonders gestärkten Lega. Kommentatoren zeigen auf, worauf sich Italien und die EU gefasst machen müssen.
Die Globalisierungsgegner übernehmen
Vorbei die Zeiten der großen Volksparteien, jetzt beginnt die Zeit der Globalisierungsgegner, klagt Maurizio Molinari, Chefredakteur von La Stampa:
„Gesiegt haben Gruppierungen, die geprägt sind von einem starken Misstrauen gegenüber den repräsentativen Institutionen. Was die Sieger des 4. März gemeinsam haben, ist, dass ihre Wurzeln nicht in dem Europa der Nachkriegszeit liegen, das sich nach Frieden sehnt. Stattdessen liegt ihr Ursprung im Europa des Protests gegen die Folgen der Globalisierung. ... Dabei ist Italien nicht nur das erste Land in Europa, in dem die Kräfte des Anti-Establishments erfolgreich sind. Es ist auch das erste westliche Land, in dem gleich zwei Anti-Globalisierungs-Optionen zur Wahl standen: das Movimento 5 Stelle und die Lega. Und beide wurden belohnt.“
Kollisionskurs mit der Eurozone
Für die Eurozone bricht eine schwierige Zukunft an, prophezeit The Times:
„Ein Ausstieg Italiens aus dem Euro bleibt zwar sehr unwahrscheinlich, doch rückt er in den Bereich des Möglichen. Sowohl das Movimento 5 Stelle als auch die [rechte] Lega haben sich im Wahlkampf für eine radikale Revision der EU-Verträge für die Eurozone stark gemacht, weil sie die verpflichtenden Einschränkungen bei Staatsausgaben und niedrigen Steuern abschaffen wollen. Deutschland und andere nordeuropäische Staaten werden dagegen heftigen Widerstand leisten. ... Selbst wenn es zu einer großen Koalition von Mitte-links und Mitte-rechts kommt - was angesichts des starken Abschneidens der Lega unwahrscheinlich ist - bekäme man ein Italien auf Kollisionskurs mit dem Rest der Eurozone.“
Selbst das kleinere Übel birgt große Risiken
Das geringere Übel wäre, wenn das rechte Parteienbündnis sich auf Antonio Tajani als Kabinettschef einigen und eine Minderheitsregierung stellen würde, meint Politologe Valentin Naumescu auf dem Blog Contributors:
„Der derzeitige Präsident des Europäischen Parlaments ist ein akzeptabler Politiker mit bedeutender Erfahrung in der europäischen Politik. Er wäre ein Regierungschef, mit dem Brüssel, Berlin und Paris diskutieren könnten und versuchen, das Reformprojekt der EU voranzutreiben ... Doch birgt auch dieses Szenario ein ernsthaftes Risiko. Wenn für [Forza-Italia-Chef] Berlusconi 2019 das Verbot ausläuft, ein öffentliches Amt zu übernehmen, könnte er sehr leicht eine politische Krise provozieren, die Regierung Tajani stürzen und sich selbst als Premier zu installieren versuchen - eine Situation, die Italien und die EU in die Luft jagen würde.“
Mit der Macht kommt die Entzauberung der Grillini
Das Movimento 5 Stelle wird schon bald an der Wirklichkeit scheitern, erwartet Die Presse:
„'Leck mich' ist noch kein Regierungsprogramm. Und somit steht Luigi Di Maio der wahre Härtetest noch bevor: die Begegnung mit der Realität. Will der Saubermacher wirklich regieren, muss er sich jetzt die Hände schmutzig machen. Der 31-Jährige wird gezwungen sein, mit der verhassten Kaste zu feilschen, paktieren, Kompromisse zu schließen und Zugeständnisse zu machen. Er wird eingestehen müssen, dass viele seiner schönen Zukunftspläne einfach nur Seifenblasenträume sind. An der Macht kann es daher nur einen 'entzauberten Grillino' geben. Fraglich ist, ob die Basis da mitmacht - und ob sich die Bewegung diesen Realitätscheck wirklich antun wird.“
Faschismus auf dem Vormarsch
Überhaupt keine guten Optionen gibt es aus Sicht von Habertürk:
„Am wahrscheinlichsten scheint eine Koalition des EU- und systemfeindlichen Movimento 5 Stelle mit den Faschisten. Sie blicken in gleicher Weise auf Europa und haben, bis auf eine linke Gruppierung innerhalb des Movimento, ähnliche Ansichten bezüglich der Flüchtlingsthematik. ... Die einzige Koalitionsoption, die, wie in Deutschland, gegen den Faschismus und für Europa eintreten würde, wäre eine Koalition zwischen der Demokratischen Partei und der Partei Berlusconis, welche jedoch mit den Faschos gemeinsam in die Wahl gegangen ist. Und wie sollte eine Koalition funktionieren, in der die beiden Parteien mit den stärksten Wahlergebnissen nicht vertreten sind? Europa gerät diesmal ganz ohne einen Weltkrieg aus den Fugen. Für seinen Zerfall braucht es aber offensichtlich einmal mehr einen Vormarsch des Faschismus.“
Gefährlicher Cocktail
El País sieht Italien vor einer Zerreißprobe:
„Der Aufstieg des Populismus, die Krise der traditionellen Parteien, die Rückkehr Berlusconis, das Erstarken der Rechtsextremen, der Regionalismus, der Rassismus und dazu die schon unvermeidbar gewordene russische Einmischung bilden eine beängstigende Mischung. Trotz des tückischen Parteien- und des komplexen Wahlsystems konnte es Italien bislang traditionell verhindern, dass das politische Chaos einer Regierungsbildung im Weg steht. Doch jetzt, mit dieser extremen Fragmentierung, steht die drittgrößte Wirtschaft der Eurozone vor einer Zerreißprobe mit ungewissem Ausgang.“
Jetzt ist die EU gefordert
Nicht nur die Regierungsbildung wird eine Herausforderung, sondern vor allem, was danach kommt, stöhnt The Daily Telegraph:
„Welche Regierung auch immer aus dieser Wahl hervorgeht, sie ist vermutlich zu schwach, um die längst überfälligen Reformen durchzusetzen, die die Wirtschaft stärken und gegen den nächsten Abschwung wappnen würden. Angesichts des Arbeitsplatzmangels und des weiter hohen Zustroms von Einwanderern droht die Bitterkeit der Italiener gegenüber der EU noch zu wachsen. Wenn diese sich nicht darauf konzentriert, das Wirtschaftswachstum zu fördern und Lösungen für die Migrationsfrage zu finden, wird die EU-Skepsis in Italien weiter zunehmen.“
Versucht sich Italien als Viségrad-Staat?
Sich von der EU zu entfernen kann sich Italien allerdings gar nicht leisten, konstatiert Andrea Bonanni, Brüssel-Korrespondent von La Repubblica:
„Die Wähler haben die Kräfte belohnt, die Europa und seinen Regeln skeptisch bis feindselig gegenüberstehen. Hier nähern wir uns der Visegrád-Gruppe an, Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei. ... Diese Länder allerdings haben eine Staatsverschuldung zwischen 36 Prozent des BIP (Tschechien) und 73 Prozent (Ungarn). Unsere liegt bei 132 Prozent und sinkt nicht gerade. Wer Souveränist sein will, darf finanziell nicht angreifbar sein. Italien dagegen ist mit seinem astronomischen Schuldenberg und seinem blutleeren Wachstum verwundbarer denn je. Mit der Wahl politischer Kräfte, die aus der Währungszone austreten wollen, wie die Lega Nord, oder ihre Meinung hierzu ständig ändern, wie das Movimento 5 Stelle, wird das Land noch verwundbarer.“
Schwerer Schlag für die europäische Idee
Auch Rzeczpospolita sorgt sich schwer um die Zukunft der EU:
„Sonntagmorgen hofften Euro-Enthusiasten noch, dank der Entscheidung der deutschen Sozialdemokraten für eine neue GroKo könne die Vertiefung der Eurozone, für die sich Emmanuel Macron stark macht, zumindest teilweise Wirklichkeit werden. Nachdem nun die Ergebnisse der italienischen Wahl bekannt sind, wissen wir, dass dies nicht realistisch ist. Ohne Aussicht auf Reformen im Land werden die Deutschen niemals Verantwortung für 2,3 Billionen Euro italienische Staatsschulden übernehmen. ... Genau darauf aber würden ein Eurozonenbudget, gemeinsame Schuldscheine und ein gemeinsamer Finanzminister hinauslaufen. Die Italiener haben die Idee eines Europas der zwei Geschwindigkeiten beerdigt. Hoffentlich haben sie nicht auch der europäischen Idee selbst den Todesstoß versetzt.“