Wie Osteuropa den Sieg über Nazideutschland feiert
Derzeit wird in ganz Europa an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 73 Jahren gedacht. In Russland wird der Sieg im "Großen Vaterländischen Krieg" seit einigen Jahren zunehmend mit patriotischem Pomp gefeiert. Kommentatoren beschreiben das Gedenken an die Erfolge der Veteranen als unwürdig und fordern andere Ex-Sowjetrepubliken auf, eine eigene Erinnerungskultur zu entwickeln.
Ex-Sowjetrepubliken brauchen eigenes Gedenken
Die Nachfolgestaaten der Sowjetunion müssen ihre eigene, von Russland unabhängige Erzählung über das Kriegsende finden, meint der Publizist Pawlo Kasarin in Nowoje Wremja:
„Moskau machte den Tag des Sieges zu einem Test für die Loyalität gegenüber dem System. Und daher sind die Nachbarländer dazu verdammt, jetzt eine eigene Sprache für die Beschreibung des größten Kriegs des 20. Jahrhunderts zu finden. Dabei ist weniger wichtig, dass das [russische Symbol militärischer Tapferkeit] Sankt-Georgs-Band durch den roten Mohn ersetzt wird [der besonders im englischsprachigen Raum an die Kriegsopfer erinnert]. Und es auch nicht so bedeutend, dass das Gedenken am 9. Mai schrittweise dem Gedenken am 8. Mai Platz macht. Weitaus wichtiger ist, dass die Diskussion über den Preis des Sieges ans Licht kommt. Darüber, was vor dem Krieg war, und was danach begann.“
Plattes Erinnern an die Siege der Anderen
Angewidert von der Profanisierung des Feiertags zeigt sich Echo Moskwy:
„Tagträumer stecken Kinder in Tarnanzüge, hängen Stalin-Visagen und Plakate mit Rechtschreibfehlern auf Grundschulniveau auf, verkaufen Unterhosen mit Siegesorden, geben zur Feier des 9. Mai Rabatt auf Striptease und bekleben Autos mit blöden Sprüchen wie 'Wir können das nochmal'. Diesen Sieg haben vor 73 Jahren die Veteranen errungen, von denen nur noch wenige leben. Alle anderen haben damit nichts zu tun. Doch sie feiern, als hätten sie den Reichstag selbst gestürmt. ... Und vor lauter Ignoranz und plumper Plattheit klammern wir uns an dieses Datum und können nicht auf die Fragen antworten: Was haben wir getan, was sind unsere Errungenschaften und Siege? Wir haben den Krieg gewonnen, Gagarin ins All geschossen - und dann? Was gab es in den letzten 18 Jahren?“
Zwei Sichten auf das Kriegsende
Russland interpretiert den Ausgang des Zweiten Weltkriegs noch immer anders als das übrige Europa, merkt Hospodářské noviny an:
„Wenn zwei das Gleiche tun, ist es nicht dasselbe. Das gilt auch für das Erinnern an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 73 Jahren. Während die damaligen westlichen Alliierten Freiheit und Frieden für den Kontinent zu erkämpfen glaubten, sieht Russland seinen Sieg bis heute anders. Die eurasische Supermacht verstand ihren Triumph im Zweiten Weltkrieg als Sprungbrett für weitere Expansionen. Und glaubt, dass die übrige Welt die russische Beute in der Welt als dauerhafte Belohnung für den Sieger respektieren sollte. Immerhin träumten die russischen Bolschewiki schon seit dem Oktoberputsch 1917 von der Weltrevolution.“
Feiertage sollen Kummer vergessen machen
Die Propaganda zum Sieg über Nazi-Deutschland soll vom innenpolitischen Versagen Putins Ablenken, meint die russische Schriftstellerin Sonja Margolina in der Neuen Zürcher Zeitung:
„In nahezu jeder Talkshow wird die russische Bevölkerung neu auf den Kampf gegen die nazistische Bedrohung eingeschworen. Diese wirkt umso bedrohlicher, je unverblümter das Staatsversagen im Land selbst täglich in Erscheinung tritt. Allein im März jagte eine schreckliche Nachricht die andere: der Grossbrand in Kemerowo ... sowie die Massenvergiftungen durch Giftgase aus den Mülldeponien um Moskau, die insbesondere Kinder betreffen. Doch an Feiertagen, da soll der Kummer vergessen werden. Moderne Kampfjets werden eine russische Trikolore an den Himmel über den Kreml malen. Und wieder wird der Westen über eine geheime Superwaffe, unsichtbare Troll-Truppen und unheimliche Cyber-Regimenter erschrecken.“