Richtungsentscheidung in der Türkei

Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am Sonntag könnten die Türkei grundlegend verändern: Gewinnen Präsident Erdoğan und seine AKP, wird dieser seine Machtstellung durch die Einführung des Präsidialsystems konsolidieren und das parlamentarische System abschaffen. Ein Blick in die Kommentarspalten zeigt, dass sich kurz vor dem Stichtag gerne auch türkische Autoren in westlichen Blättern zu Wort melden.

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Sabah (TR) /

Propaganda ist zwecklos, Erdoğan gewinnt ja doch

Die westlichen Medien unterstützen - vergeblich - die Anti-Erdoğan-Kampagne, ärgert sich Sabah:

„Seit fünf Wahlen machen westliche Medien dieselbe Propaganda. 'Diesmal hat Erdoğan einen starken Herausforderer', sagen sie. Und das Ergebnis? Jedes Mal gewinnt Erdoğan die Wahl. Wird es wieder so kommen? Ja, mit Hilfe der Nation wird es inşallah so sein. Doch die, die es nötig haben, in den westlichen Medien Propaganda zu machen, um damit Einfluss auf die türkische Politik zu nehmen, sind unfähig [damit bezieht sich Sabah insbesondere auf einen jüngst in der New York Times erschienenen Beitrag einer Ex-CHP-Abgeordneten]. Das sind keine Versuche, die türkische Politik darzustellen, das sind ganz offensichtlich Hilferufe an den Westen.“

The Independent (GB) /

Die Türkei keine Demokratie? Von wegen

Politikwissenschaftlerin Kübra Özturk verteidigt in The Independent die politischen Zustände in ihrer Heimat:

„Die Türken sind in den vergangenen drei Jahren öfter wählen gegangen und haben öfter von ihrem demokratischen Recht Gebrauch gemacht als die Deutschen, die Franzosen und die Briten. Die Beteiligung an Wahlen in der Türkei ist höher als in vielen anderen Demokratien dieser Welt. Bei der letzten landesweiten Wahl lag die Beteiligung bei 85 Prozent. Im Vergleich dazu waren es in Frankreich 65, in Deutschland 76 und in den USA 55 Prozent. Für ein Land, das ständig als undemokratisch und dessen Regierung gerne als autoritär hingestellt wird, wendet die Türkei ihre demokratischen Prozesse ziemlich oft an.“

Cumhuriyet (TR) /

Türkei braucht parlamentarische Demokratie

Wenn sich der überraschend starke CHP-Kandidat İnce durchsetzen sollte, ist die Demokratisierung der Türkei kein Automatismus, beobachtet Kolumnist Aydın Engin in Cumhuriyet:

„Muharrem İnces 'Programm für die ersten 100 Tage' macht nur Sinn, wenn es den Übergang zur parlamentarischen Demokratie (Ich spreche nicht von Rückkehr, sondern von Übergang) beschleunigt. Er selbst hat auf einigen Kundgebungen betont, dass das Ziel die parlamentarische Demokratie ist. ... Dieses Ziel wurde auch in dem Wahlpapier seiner Partei festgehalten. Das alles ist gut. Doch es ist lediglich gut. Sollte İnce die Präsidentschaftswahl gewinnen und sollte die AKP ihre Mehrheit im Parlament verlieren, wird das der Startschuss einer schweren Prüfung, sowohl für die CHP, als auch für Muharrem İnce. Eine Prüfung, ob sie den Sturz des Ein-Mann-Regimes und den Übergang zur parlamentarischen Demokratie meistern können.“

News.bg (BG) /

Präsident hat für die Wahlen schon vorgesorgt

Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am Sonntag werden manipuliert, prophezeit news.bg:

„Diese Wahlen werden im Umfeld des vor fast zwei Jahren verhängten Ausnahmezustands stattfinden. Dieser festigt nicht nur die Position des türkischen Präsidenten Erdoğan in den politischen Prozessen des Landes, sondern erlaubt ihm auch, die politischen Spielräume im Land auf ein Minimum zu begrenzen. … Im vorwiegend kurdischen Südosten der Türkei wurden die gewählten Bürgermeister abgesetzt und mit Leuten der Regierung ausgetauscht, die jetzt mit der Organisation der Wahlen in den Kommunen betraut sind. Das Ziel ist klar: Das Votum der Kurden, die größtenteils gegen Erdoğan sind, zu unterdrücken.“

The Times (GB) /

Keine Angst vor Kooperation mit Erdoğan

Der Westen zieht in vielen außenpolitischen Fragen mit dem türkischen Präsidenten an einem Strang, meint The Times:

„Wir sollten anerkennen, dass wir trotz unseres Unbehagens einige gemeinsame Ziele haben. Recep Tayyip Erdoğan will einen Sicherheitspuffer zwischen Nordsyrien und der Türkei. Das wollen wir auch. Er fordert mehr Geld und Respekt dafür, dass die Türkei als Auffanglager für mehr als drei Millionen syrische Flüchtlinge dient. Das ist verständlich. Und die PKK ist nicht nur ein Feind der Türkei, sie steht auch auf unserer Liste der Terrororganisationen. ... Es wird niemals einfach sein, die Situation in der Türkei mit unserem Verständnis einer funktionierenden Demokratie zu vereinbaren. Doch wir sollten uns vor Heuchelei hüten. In einem implodierenden Nahen Osten überschneiden sich Erdoğans Interessen in vielen entscheidenden Fragen mit den unseren.“