Hat Merkels Rede in Straßburg gezündet?
Angela Merkel hat sich vor dem Europaparlament in Straßburg für eine europäische Armee ausgesprochen. Damit bekräftigte sie die Forderung, die Emmanuel Macron erst vor einigen Tagen formuliert hat. Nicht entgegen kam ihm Merkel allerdings in Sachen Eurozonen-Budget. Europas Kommentatoren untersuchen, was Merkel aus ihrem womöglich letzten Auftritt im hohen Haus der EU gemacht hat.
EU ist verdammt dazu, auf der Stelle zu treten
Wer sich von Merkels Rede viel versprochen hat, ist enttäuscht worden, meint Delo:
„Merkel war bereit, zumindest Emmanuel Macrons Projekt einer europäischen Armee zuzustimmen. Trotzdem ist dieses Projekt noch weit von konkreten Lösungen entfernt und eher eine politische Vision, oder ein Luftschloss. Ein neuer Schwung für Europa, so wie es bei der Regierungsbildung in Berlin dieses Jahr angekündigt wurde, ist nicht in Sicht. Das ausstehende Ergebnis der Europawahlen wird eine neue Ausrede für das Fehlen sichtbarer Veränderungen sein. Das Schicksal der Europäischen Union ist es wohl, auf der Stelle zu treten. Mit Merkel, oder eines Tages ohne sie. Bis zur Ernüchterung.“
Keine Sozialpolitik, aber eine Armee
Der Ruck, der von Merkels Rede hätte ausgehen müssen, ist ausgeblieben, bedauert auch der Deutschlandfunk:
„Kanzlerin Merkel versteht es, den Status Quo zu beschreiben, ihre Argumente mit Beharrlichkeit zu bewerben, aber für Europa begeistern, das kann sie nicht – jedenfalls vergab sie im Europaparlament die möglicherweise letzte Chance dazu. … Für europäische Ideen begeistern, das hieße auch, das, was die EU ausmacht, stärken: Das sind hohe menschenrechtliche, wirtschaftliche und umweltpolitische Standards. … Merkel geht in ihrer Rede mit keinem Wort auf Sozialpolitik ein, stattdessen stellt sie eine europäische Armee in Aussicht und spricht von gemeinsamen Waffensystemen. Kaum vorstellbar, dass sich so die Herzen derjenigen gewinnen lassen, die dem Quälgeist des Rechtspopulismus unterliegen.“
Merkel lenkt von echten Problemen ab
Merkels Forderung nach einer europäische Armee ist nach Ansicht der Neuen Zürcher Zeitung ein Ablenkungsmanöver:
„Die europäische Armee, über die seit mehr als zehn Jahren in Brüssel und anderen Hauptstädten geredet wird, ist eine Fata Morgana, die immer wieder dann auftaucht, wenn von Blockaden, Ideenlosigkeit und Streit innerhalb der Union abgelenkt werden soll. Das von Macron nach seiner Wahl zum Präsidenten im Frühjahr 2017 forsch vorgetragene Programm zur vertieften Integration der Euro-Zone zwecks weiterer Umverteilung finanzieller Risiken ist nicht vorangekommen. Nordische Mitgliedsländer wie auch Angela Merkel traten unter dem Druck wachsender innenpolitischer Opposition von rechts auf die Bremse. Die Disziplinierung ostmitteleuropäischer Beitrittsländer in Sachen Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung stockt ebenfalls. Und von Einigkeit in der Migrationspolitik fehlt jede Spur.“
Kanzlerin muss jetzt liefern
Wie ernst es die Kanzlerin mit der europäischen Verteidigung wirklich meint, wird sich bald erweisen, kommentiert Libération:
„In Straßburg hat sich Angela Merkel am Dienstag für die baldige Schaffung einer 'europäischen Armee' 'zur Ergänzung der Nato' ausgesprochen. In Kürze wird sie Gelegenheit haben, zu zeigen, dass dies nicht nur warme Worte waren. Bis Ende des Jahres muss Deutschland seine Kampffliegerflotte erneuern. Wird sich Deutschland anders als die Belgier, die gerade F35-Kampfjets in den USA geordert haben, für einen europäischen Hersteller entscheiden?“