Ukraine: Selenskyj oder Poroschenko?
In einer Stichwahl treten am Sonntag der Komiker Wolodymyr Selenskyj gegen Amtsinhaber Poroschenko um das Präsidentenamt in der Ukraine an. Selenskyj hatte die erste Runde mit rund 30 Prozent der Stimmen deutlich vor seinem Kontrahenten gewonnen, der auf rund 16 Prozent kam. Hat Poroschenko noch eine Chance das Ruder herumzureißen?
Wie der Präsident noch gewinnen könnte
Kommersant malt sich Szenarien aus, die Selenskyj den Wahlsieg kosten würden:
„Auch wenn die Szenarien unwahrscheinlich sind, ganz auszuschließen sind sie nicht. In der Ukraine ist alles möglich. Das erste Szenario wäre eine Art Katastrophe, ein Ereignis höherer Gewalt, das die Lage völlig umkrempelt: etwa ein Zwischenfall mit Selenskyj, der verschwindet, verrückt wird, seine Kandidatur zurückzieht, erklärt, dass dies nur Arbeiten für eine neue TV-Serie gewesen seien, oder zu seinem Schutzpatron, dem Oligarchen Kolomojskyj, ins Ausland flüchtet. Oder wenn er beim Einzug ins Kiewer Olympiastadion 'Lang lebe Putin!' ruft. Das zweite Szenario wären extreme Wahlfälschungen, die der Wahlkommission den Mut gäben, Poroschenko zum Präsidenten zu erklären. Anhänger dieser Version glauben, es gewinnt, wer die 'Schlacht um die Zentrale Wahlkommission' für sich entscheidet.“
Stimmen des Hasses
Warum Wladimir Selenskyj mit seinen Wählern bald ein Problem haben könnte, erklärt der Journalist Roman Romaniuk in Ukrajinska Prawda:
„Die Unterstützung all derer, die Poroschenko hassen, ist ihm gewiss. ... Das heißt aber noch lange nicht, dass dies nur ein Problem Poroschenkos ist. Für Selenskyj ist es sogar ein noch größeres Problem. Der Mann, der möglicherweise bald Präsident ist, geht ein großes Risiko ein, wenn er versucht, all jene für sich zu gewinnen, die die Regierung hassen. Denn sobald Poroschenko seinen Platz geräumt hat, wird Selenskyj mit all dem Hass allein sein. Es scheint, als hätten sich Selenskyj und sein Stab in den vergangenen Wochen von folgendem Satz leiten lassen: 'Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden.'“
Virtuelle siegt über reale Welt
Der ukrainische Wahlkampf hat gezeigt, wie bedeutend die virtuelle Welt geworden ist, kommentiert die Tageszeitung Lietuvos žinios:
„Wenn das Team des amtierenden Präsidenten Poroschenko eine Schwachstelle von Selenskyj findet und diese mit traditionellen Mitteln angreifen möchte, dann bewegt das die Unterstützer von Selenskyj kaum. Denn der nimmt einfach sein Smartphone in die Hand und verbreitet irgendeinen humoristischen Kommentar, der schnell in den sozialen Netzwerken von Millionen Menschen gesehen und geteilt wird. ... Bei dieser Wahl stößt somit die virtuelle auf die reale politische Welt. Für den Wahlkampf braucht man nicht einmal einen Kandidaten, sondern nur sein Image.“
Selenskyj ist ein Russlandversteher
Mit einem Sieg Selenskyjs in der zweiten Runde würde sich die Ukraine wieder ein Stück vom Westen entfernen, meint die Frankfurter Rundschau:
„Selenskyj stammt nicht nur aus dem russischsprachigen Osten. Er verkörpert in seinem Auftreten eine Art postsowjetisches Lebensgefühl, das sich stark aus antiwestlichen Ressentiments speist. Er mag keine Marionette von Wladimir Putin sein, aber er ist ein 'Russlandversteher'. Er hat im Stil von Donald Trump angekündigt, er werde als Präsident mit Putin sprechen - und hören, was dieser so erwarte. Dann werde er seine Erwartungen nennen, und am Ende werde man sich in der Mitte treffen. Das aber wäre nicht nur naiv, sondern auch das Eingeständnis, dass Putin über das Schicksal der Ukraine mitentscheiden darf.“
Insgeheim setzt Kreml auf Poroschenko
Dass Selenskyj Moskau lieber wäre als Poroschenko, glaubt Radio Kommersant FM hingegen ganz und gar nicht:
„Trotz allem, Poroschenko ist ein bewährter Partner. Wenn er angreift, dann nicht schlimm. Das in jeder Beziehung komische Manöver vor Asow mit Booten und einem alten Schlepper an der Spitze war mehr eine Show. ... Unter ihm sind die Oligarchen an der Macht, so wie es bei Janukowitsch war. ... Poroschenko ist im Großen und Ganzen aus dem gleichen Holz geschnitzt wie die gegenwärtigen Kremlpolitiker. Aber Selenskyj ist ein Alptraum für Moskau. ... Er fällt aus allen gewohnten Rahmen, man hat keinen Zugang zu ihm.“
Ukraine immer für Überraschungen gut
Wer am Ende Präsident wird, ist kaum vorhersehbar, analysiert Politikwissenschaftler Armand Gosu in Revista 22:
„Die Wähler in der Ukraine können einen Komödianten wählen, der in die Rolle eines populistischen Politikers geschlüpft ist und keinerlei Erfahrung hat, kein Team, kein politisches Programm, keine klare Haltung zur Krim, dem Donbass und Russland. Die Alternative dazu ist ein Oligarch der alten Politikergarde: Ein Präsident, der der Korruption beschuldigt wird, der von dubiosen Mitarbeitern umgeben wird, aber den riesigen Vorteil hat, dass er sowohl für die ukrainischen Bürger als auch für die westlichen Regierungen vorhersehbar ist. ... So schwer wie das Verhalten der Wähler in der Ukraine vorauszusagen ist, wäre es keine Überraschung, wenn sich in der Stichwahl dennoch Präsident Poroschenko durchsetzen würde.“
Dieser Komiker wird dem Land erhalten bleiben
Selenskyj könnte die politische Landschaft in der Ukraine nachhaltig prägen, meint The Irish Times:
„Vor allem jüngere Ukrainer bezweifeln, dass der Milliardär Poroschenko und die Ex-Chefin aus der Gas-Branche Timoschenko privilegierte Eliten zurückdrängen könnten. Viele setzten ihre Hoffnungen daher in einen Komödianten, dessen Wahlkampf zwar ein Lehrbeispiel für die Nutzung sozialer Medien war, aber wenig politische Substanz bot. ... Selbst wenn Selenskyj im zweiten Wahlgang verliert, könnte er den Schwung nutzen, um eine politische Partei zu gründen und mit dieser bei der Parlamentswahl im Oktober antreten. Wer auch immer die Wahlen dann gewinnt, sollte sich vergegenwärtigen, dass sich an der politischen Spitze der Ukraine - im Gegensatz zu Russland - alles schnell und häufig ändert.“
Für die Jugend ist die Wahl ein Witz
Der Schriftsteller Borys Chersonskyi zieht in Nowoje Wremja folgende Schlüsse aus der Wahl:
„1. Dies ist eine Protestwahl. Die Menschen haben die Elite satt, sind der Korruption müde. ... 2. Wir haben uns bitter beklagt, dass junge Menschen mit den Füßen abstimmen (und gar nicht zur Wahl gehen.) Diesmal scheint die Rolle der Jugend bei der Wahl viel größer gewesen zu sein, als je zuvor. Nur haben die jungen Leute mehr aus Spaß denn aus einem Verantwortungsgefühl heraus gewählt. Der Zusammenbruch des Bildungssystems ist bei unseren Wählern angekommen. 3. Ähnliches geschah in den Vereinigten Staaten, wo eine 'Volkswelle' eine ziemlich komische und unvorbereitete Figur an die Spitze der Macht brachte. In den USA gibt es jedoch zwei andere Machtbereiche, das Parlament und die Judikative, die den Präsidenten kontrollieren. Bei uns ist die Exekutive ungezügelt.“
Zum Kompromiss mit dem Teufel bereit
Russland-Korrespondent Giuseppe Agliastro skizziert in La Stampa Unterschiede zwischen den Stichwahl-Kandidaten:
„Mit der Wahl zwischen Poroschenko und Selenskyj entscheiden die Bürger, in welche Richtung das Land gehen soll, um aus dem wirtschaftlichen Sumpf herauszukommen und den Kämpfen im Donbass ein Ende zu setzen. Beide verbleibenden Kandidaten sind pro-westlich, doch ihre Pläne hinsichtlich dieses Konflikts sind sehr unterschiedlich, und laut Experten hat Selenskyj mehr Chancen, sich bei Putin Gehör zu verschaffen als Poroschenko. Selenskyj sagte ausdrücklich, dass es zur Lösung der Krise notwendig sei, sich mit dem 'Teufel', also mit dem Kreml, auseinanderzusetzen. Man werde einen Kompromiss finden. Nur wie dieser ausschaut, das bleibt unklar.“
Wen sich Russland wünscht
Der Politologe Alexej Makarkin erklärt wiederum in Wedomosti, wen der Kreml wählen würde:
„Ich denke, die russische Staatsmacht würde einen Sieg Selenskyjs bevorzugen. ... Die Hoffnungen dürften damit zusammenhängen, dass er wohl ein schwacher Präsident sein wird. Er ist unerfahren, er hat keine Mannschaft. Es sieht so aus, als hätte er selbst nicht erwartet, dass seine Kampagne auf solche Resonanz trifft. ... Der für Russland negativste Sieger wäre Poroschenko. Als er sich das erste Mal zur Wahl stellte, wurde er von vielen in Russland als Unternehmer gesehen, der versuchen könnte, sich mit Russland auf Kompromisse zu einigen. Doch wie sich zeigte, ist er ein ganz anderer Mensch. Er ging in der Rolle des Oberkommandierenden auf und hat nicht vor, Zugeständnisse zu machen.“
Lieber eine Farce als eine ewige Tragödie
Vor allzu großen Erwartungen an den TV-Komiker Selenskyj warnt Delo:
„Es gibt zu viele verschiedene Interessen und einflussreiche Akteure hinter den Kulissen, aber auch den mehr oder weniger offenen Einfluss der internationalen Kräfte, um sich wirklich ernsthafte Veränderungen zu erlauben. Es ist nicht schwer, im Fernsehen den Präsidenten zu spielen. Doch der Auftritt in der (geo)politischen Komödie der Wirklichkeit erfordert echte Player. Doch so, wie es leider üblich ist, könnte diese Wirklichkeit für die Ukrainer zur Farce werden. Doch auch das wäre besser, als dass die Tragödie, in der zahlreiche Menschen bereits leben, das einzige Genre ihres Daseins wird.“