Moskau und Kiew: Worum geht es im Asowschen Meer?
Das ukrainische Parlament hat am Dienstag der Verhängung des Kriegsrechts für zunächst 30 Tage zugestimmt. Hintergrund ist ein Zwischenfall in der Meerenge von Kertsch. Dort hatte Russland vorübergehend das Fahrwasser unter der neuen Krim-Brücke blockiert und mit seiner Marine die Durchfahrt mehrerer ukrainischer Militärschiffe gewaltsam gestoppt. Kommentatoren glauben, dass beide Seiten aus der Eskalation Kapital schlagen.
Zündelnde Präsidenten
Echo Moskwy vertritt die Ansicht, dass die Krise von Kertsch hier wie dort ausgeschlachtet wird:
„Poroschenko droht bei den Wahlen durchzufallen. In der Ukraine sind das - kein Witz - wirklich Wahlen, 20 Jahre lang durchregieren geht da nicht. Doch seine Beliebtheitswerte sind im Keller. Und weil Poroschenko nicht die Möglichkeit hat, einen kleinen siegreichen Krieg anzuzetteln, sorgt er halt für eine kleine siegreiche Niederlage. So wird jetzt originellerweise eine Armee in vollständige Kampfbereitschaft versetzt, die vollständig nicht kampfbereit ist. Doch auch Russland kommt jeder Tropfen Benzin, der ins ukrainische Feuer gegossen wird, sehr gelegen. Auch das Rating unseres Anführers fällt. Und das Volk sorgt sich mehr um sein eigenes Leben als um Syrien oder die verfluchten Banderowzy [rechtsextreme Anhänger von Stepan Bandera (1909 – 1959) in der Ukraine].“
Russische Salami-Taktik
Hinter dem Zwischenfall in der Straße von Kertsch erkennt Expressen eine typisch russische Vorgehensweise:
„Der Kreml hat das Nachbarland seit langem als Experimentierwerkstatt für militärische Grauzonenstrategien genutzt. Die Halbinsel Krim wurde 2014 von russischen Spezialeinheiten ohne Länderabzeichen - 'kleine grüne Männer' - besetzt, was die Welt lange verwirrte. So wurden vor Ort Tatsachen geschaffen. ... Die Strategie des Kremls ist eine Salami-Taktik: Durch kleine Positionsveränderungen, die jeweils für sich genommen nicht ernst genug sind, um deshalb Krieg zu führen, wird das Kräfteverhältnis dauerhaft zum Vorteil Russlands verändert. Wladimir Putin braucht eine Krise. Seine unpopuläre Rentenreform hat seine Meinungsumfragen erschüttert. ... Lasst nicht zu, dass Putin ungestraft einen weiteren Bissen von der Ukraine bekommt.“
Zum ersten Mal ohne Maske
Verslo žinios hebt einen Punkt besonders hervor:
„In dieser ganzen Eskalation ist die wichtigste Tatsache diese: Zum ersten Mal nach 2014 greift Russland die Ukraine unter der russischen Flagge an. Bisher schob es die Verantwortung stets anderen in die Schuhe. … Es ist wichtig, dies zu verstehen und zu wiederholen: Ein seit fünf Jahren tobender hybrider Krieg wurde zu einem offenen Krieg unter der russischen Flagge. Das ist kein zwischenstaatlicher Konflikt wegen irgendwelchen Grenzverläufen. Das ist ein vom Aggressor Russland geführter Krieg gegen die Ukraine. Wir dürfen keine sanfteren Ausdrücke wählen. Ein Krieg ist ein Krieg. Ein Aggressor ist ein Aggressor. Wir müssen endlich klare Worte benutzen.“
Westen hat Russland zu sehr gedemütigt
Dass Moskau nach Ende des Kalten Krieges nicht aktiv in die politische Neuordnung Europas einbezogen wurde, rächt sich nun bitter, klagt The Guardian:
„Es ist unübersehbar, dass es Europa an einem gemeinsamen Forum fehlt, in dem derartige Eskalationen erörtert und möglicherweise gelöst werden können. Dem Ende des Kalten Krieges in Europa folgte keine Überarbeitung der Abkommen von Jalta und Potsdam, die vor, beziehungsweise unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs geschlossen worden waren. Es gab keinen neuen Vertrag mit Russland. Der Versuch, das Land mit der Nato militärisch zu umzingeln, war genauso unbesonnen wie Londons Bemühen, Moskaus Heer von Oligarchen und Kleptokraten mit offenen Armen zu empfangen. Gut möglich, dass Historiker den Umgang mit dem besiegten und niedergeschlagenen Russland in den 1990er-Jahren vergleichen werden mit dem Deutschlands nach 1918.“
Russische Machtdemonstration
Seit dem Bau der Brücke von Kertsch hat Russland die Eskalation angeheizt, urteilt La Stampa:
„Im Asowschen Meer - dem Binnenmeer zwischen der Krim, dem kriegsführenden Donbass und Russland - ist die Schifffahrt sowohl für Russen als auch Ukrainer auf der Grundlage eines Abkommens von 2003 frei. Die neue Brücke über die Meerenge von Kertsch, die in diesem Jahr eingeweiht wurde, ist jedoch nur 35 Meter hoch und verhindert die Durchfahrt der großen Handelsschiffe, die einst in Mariupol anlegten. ... Vor allem aber ermöglicht die Brücke den Russen, den einzigen Zugang zum Asowschen Meer zu kontrollieren. Die gestrige Aktion ist ein perfektes Beispiel dafür. Seit Monaten verstärkt Moskau seine militärische Präsenz in der Region und verlangsamt den Handelsverkehr in diesen Gewässern, indem es praktisch alle Schiffe kontrolliert, die auf ukrainische Häfen zufahren.“
Weitere Schmach für den Westen steht bevor
Wenn die EU und die USA die Lage am Asowschen Meer nicht beruhigen, riskieren sie einen Gesichtsverlust, warnt Polityka:
„Der US-Sonderbeauftragte für die Ukraine, Kurt Volker, hat sich noch nicht geäußert, aber wahrscheinlich führt er gerade beunruhigende Telefonate. [Die EU-Außenbeauftragte] Federica Mogherini wird wohl eine Erklärung veröffentlichen, in der sie das Handeln der Russen verurteilt, aber die 'europäische Armee' wird sie nicht auf die Krim schicken. Fast fünf Jahre nach der territorialen Aggression Russlands gegen die Ukraine bleibt der Konflikt im Donbass eingefroren und die Annexion der Krim wird akzeptiert. Falls das Asowsche Meer wegen der Aktivitäten am Wochenende an Russland geht, werden sich alle im Westen schämen müssen.“
Die wahren Interessen von Washington und Brüssel
Die kremltreue Iswestija wirft dem Westen vor, die Ukraine in dem Konflikt allein aus strategischen Überlegungen zu unterstützen:
„Es sieht so aus, als sorge sich der Westen um die internationalen Rechte und Wirtschaftsinteressen Kiews, dessen 200 Schiffe gewisse Schwierigkeiten beim Passieren der Straße von Kertsch haben. Aber warum interessieren ihn dann nicht die 15 unter anderem russischen Schiffe, die illegal in den Häfen von Mariupol und Berdjansk festgehalten werden? In Wirklichkeit kümmern Europa die wirtschaftlichen Interessen der Ukraine nicht. Sie dienen lediglich als Druckmittel gegen Russland. Ganz anders der Zugang zum Asowschen Meer, wo man in Zukunft eine Nato-Marinebasis nah an Russlands Grenzen schaffen könnte. Offensichtlich ist dies das Hauptinteresse von Washington und Brüssel. Und noch offensichtlicher ist, dass Moskau diesen Wunsch nicht erfüllen wird.“