Russland und Ukraine: Warum der Pass-Wettstreit?

Nachdem Russland angekündigt hat, den Bewohnern des Donbass vereinfacht und beschleunigt russische Pässe auszustellen, und dieses Angebot anschließend auf alle Ukrainer ausweitete, hat der designierte ukrainische Präsident Selenskyj gekontert. Er bot allen Russen die ukrainische Staatsbürgerschaft an. Kommentatoren erklären, was wirklich hinter der freizügigen Passvergabe steckt.

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Kommersant (RU) /

Moment der Wahrheit für die Bürger

Zwischen beiden Ländern entsteht eine neue Rivalität jenseits des Streits über die Krim und den Donbass, beobachtet Kommersant:

„Das ist ein Streit über Soft Power, über Entwicklungsmodelle und Demokratie: Wo lebt es sich besser? Dies ist ein Streit über Werte, in dessen Zentrum unweigerlich der Mensch steht, und über dessen Wohlstandsniveau, Lebensqualität, Geborgenheit, Grundrechte und Freiheiten. In diesem Sinne wird die Pass-Geschichte zum Moment der Wahrheit: Denn die freiwillige Wahl für das eine oder andere Modell müssen die Menschen selbst treffen, sie entscheiden, wessen Modell attraktiver ist. Diese Situation wird zum Crash-Test für Präsident Selenskyj. Wenn er nicht blufft, muss er seinen Mitbürgern noch zeigen, dass die Ukraine wirklich ein Vorbild für alle anderen ist.“

Lietuvos žinios (LT) /

Moskau hat Angst vor Selenskyj

Das russische Passangebot zeigt nicht Moskaus Stärke, sondern dessen Angst, glaubt Lietuvos žinios:

„Die Entscheidung, russische Pässe im Donbass zu verteilen, könnte noch einen Grund haben. Falls Selenskyj mit Hilfe der westlichen Partner auf prowestlicher Spur bleibt, wird er zu einem weitaus akzeptierteren Gesicht auch in den von Kiew nicht kontrollierbaren Territorien im Donbass werden. Viel mehr, als es Poroschenko war. Und das animiert diese Region, sich wieder nach den Kiewer Regeln in diesen Staat einzugliedern. Damit das verhindert wird, beeilt sich Moskau, seinen Einfluss im Donbass zu stärken. Nicht nur mit dem dort funktionierenden Rubel und der Unterstützung für das Separatistenregime, auch mit den Pässen.“

Adevărul (RO) /

Brüssel wacht erst jetzt auf

Für den Journalisten Cristian Unteanu steckt hinter Putins Angebot auch eine Warnung für die EU, wie er auf seinem Blog bei Adevărul schreibt:

„Das russische Angebot ist - und das haben schlussendlich die europäischen Anführer sehr spät erst erkannt - eine knackige Botschaft an all jene, die über die Zukunft Europas diskutieren. ... Meiner Meinung nach ist die Warnung in dieser Botschaft erst jetzt richtig in Brüssel bewertet worden, weil es hier zu einer Bewegung mit enormen Folgen kommen kann, wenn man die Ausweitung und Nutzung dieser Präzedenzfälle erlaubt. Konkreter: es besteht die Möglichkeit, dass die 'Waffe der Pässe' künftig als Vorläufer oder Katalysator für Konfliktsituationen von Staaten genutzt wird, die Territorium zurückgewinnen wollen.“

Ukrajinska Prawda (UA) /

Man hätte damit rechnen müssen

Dass man in Kiew von diesem Schritt Moskaus überrascht ist, irritiert den Kommentator Oleh Petrowez, der in Ukrajinska Prawda schreibt:

„Die totale Ausbreitung von Pässen anderer Staaten auf ukrainischem Territorium geht weiter. Wir erinnern uns, dass man Ukrainern in Transkarpatien ungarische Pässe ausstellte. Und nun die Passvergabe der Russen in den vorübergehend vom Staat nicht kontrollierten Gebieten des Donbass. Dies hat sogar das eindrucksvollste Ereignis von 2019, die Wahl des neuen ukrainischen Präsidenten, überschattet. ... Ende Juli 2017 verabschiedeten die russischen Parlamentarier ein Gesetz, in dem sie 'für alle Fälle' ein vereinfachtes Verfahren für die Ausstellung ihrer Pässe an ukrainische Bürger beschrieben. ... In der Ukraine hatte man darauf kaum reagiert, auch die ukrainischen Medien hatten das nicht thematisiert.“

grani.ru (RU) /

Einladung ins Protektorat

Die in Russland gesperrte oppositionelle Webseite grani.ru sieht die Passausgabe in der Ostukraine als eine Art halbherzige Vereinnahmung:

„Mit seinem Erlass macht Putin klar und deutlich, dass er diese Regionen vorerst nicht - wie die Krim - nach Russland holen will oder kann. Aber sie in russische Protektorate zu verwandeln, das ist kein Problem. Einerseits sind sie dann nicht Russland - andererseits aber doch: mit russischen Pässen, mit der russischen und nicht der verhassten ukrainischen Sprache, mit russischen Renten und Lebensmitteln, Putin-Porträts und einer dem Kreml unterstehenden lokalen Chefetage. Dieser Erlass ist eine Einladung ins Protektorat. Er bedeutet, dass man sich im Kreml sicher ist: Nach der Präsidentschaftswahl ist die Ukraine derartig geschwächt, dass man bei ihr ohne besondere Furcht neue Landstücke abbeißen kann.“

Wedomosti (RU) /

Moskau testet Selenskyj

Wedomosti entdeckt eine beunruhigende Analogie zur Entwicklung im Georgien-Konflikt:

„Anfang der 2000er Jahre gab Russland massenhaft Pässe an die Bewohner Abchasiens und Südossetiens aus. Und im August 2008 rechtfertigte Russlands damaliger Präsident Medwedew den Beginn des Georgien-Krieges mit der Notwendigkeit, die Menschen dort zu beschützen. ... Seine Worte 'Russland ist zweifellos immer bereit, seine Bürger zu beschützen' klingen nun bedrohlich. Der jetzige Erlass wird nicht zwangsläufig zu einer großen Verschärfung in den Beziehungen mit der Ukraine führen, vielmehr sieht es nach einem Versuch aus, die Einsätze im Spiel um den Donbass-Konflikt zu erhöhen. Offenbar versucht der Kreml, den designierten Präsidenten Selenskyj auszutesten, in dem er andeutet, die Passvergabe könne je nach Kiews Verhalten begrenzt oder massenhaft ablaufen.“

Radio Kommersant FM (RU) /

Kreml schickt ein klares Signal

Radio Kommersant FM findet die russische Strategie nachvollziehbar:

„Der Kreml schickt Kiew ein deutliches Signal, dass man gar nicht erst versuchen solle, Donezk und Luhansk mit Gewalt einzunehmen. Denn dann würden - nachdem dort massenhaft Bürger die russische Staatsbürgerschaft bekommen haben - derartige Aktionen seitens der ukrainischen Führung nicht anders gewertet als das Vorgehen [des früheren georgischen Präsidenten] Saakaschwili 2008 gegen Südossetien [als die georgische Armee die südossetische Hauptstadt und umliegende Dörfer beschoss]. Mit allen bekannten Folgen. ... Dies ist eine Sichtweise, die auch dem Westen durchaus eingängig ist, selbst den Amerikanern. … Natürlich werden sie sich aufregen und von doppelten Standards reden. Doch die Logik des Kremls werden sie verstehen und bei der Festlegung ihrer künftigen Positionen berücksichtigen.“