Wie gedenkt Osteuropa des Weltkriegsendes?
Während in den meisten europäischen Ländern am 8. Mai dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung vom Nationalsozialismus gedacht wird, wird in Russland erst der 9. Mai zelebriert - als Tag des Siegs. Auch in anderen osteuropäischen Ländern feiern Menschen zum Teil diesen Tag und nicht den 8. Mai. Doch wie dieser Tag begangen wird, gefällt einigen Kommentatoren überhaupt nicht.
Sie feiern nicht den Frieden, sondern den Krieg
Leider leben nicht mehr genug Kriegsveteranen, die vom Horror des Kriegs berichten können, bedauert Delfi:
„Während der Sowjetzeit hat man am 9. Mai vor allem des Kriegsendes und des schwer erkämpften Friedens gedacht. ... Es hat noch viele lebende Kriegsveteranen gegeben, und die meisten von ihnen waren abgeschreckt vom Gedanken an einen neuen Krieg. Inzwischen hat sich alles radikal verändert. Knapp 80.000 Kriegsteilnehmer sind noch am Leben. Ihre Generation stirbt aus und ihre von der pseudopatriotischen Hysterie beeinflussten Nachkommen feiern den Tag des Siegs ganz anders als in der Sowjetzeit. Sie feiern nicht den Frieden, sondern den Krieg.“
Wenn die Instagram-Patrioten marschieren
Über Kinder in Weltkriegs-Uniformen regt sich Blogger Ilja Warlamow auf. In dem von Echo Moskwy übernommenen Beitrag schreibt er:
„Der Siegestag ist nicht nur ein den Russen heiliger Feiertag, sondern auch eine Goldader für Verkäufer allerlei militaristischen Krempels. ... Eltern denken nun wohl, es sei richtig cool, Kinder in Uniform-Abklatsche aus der Weltkriegszeit zu stecken. Klar, warum: Mit einem so rausgeputzten Kind kann man auf Instagram angeben. Oder man zeigt das Foto Kollegen, sollen die doch neidisch sein! Vielleicht wirst du sogar befördert, wenn dein Chef erfährt, was für ein Patriot du bist. Mit dem Gedenken an die im Krieg umgekommenen Ahnen hat die ganze Maskerade nichts zu tun, sie ist ein Jahrmarkt der Eitelkeiten. Zudem propagiert der Staat aktiv die Militarisierung der Kinder. In Pjatigorsk gab es vor ein paar Tagen eine 'Parade der Vorschul-Streitkräfte' (nein, kein Witz!).“
In Riga fehlen noch immer die richtigen Worte
In Riga haben am 9. Mai rund 100.000 Russischsprachige die Befreiung vom Nationalsozialismus gefeiert. Historiker Uldis Neiburgs schreibt in Latvijas avize über die Politiker, die an den Feiern zum 9. Mai teilnehmen:
„Leider hat bis jetzt keiner von der Politikern der Partei Harmonie oder aus anderen Parteien, die am 9. Mai am Siegesdenkmal in Riga auftauchen, den Mut aufgebracht und gesagt: Ja, unsere Großväter haben heldenhaft gekämpft, haben Nazideutschland besiegt, viele von ihnen sind im Krieg gefallen. Und deshalb haben wir uns hier am Denkmal versammelt, um sie zu ehren. Aber diese Geschichte hat auch eine andere Seite, weil wir in Lettland leben, wo der 9. Mai nicht nur das Ende der Nazi-Besatzung bedeutet, sondern auch die Ablösung einer Besatzung durch eine andere. Wenn dies einmal jemand gesagt hätte, wären wir im Prozess der Integration viel weiter gekommen.“
Historische Wahrheiten nicht verdrehen
Einen leichtfertigen Umgang mit der Geschichte hinsichtlich der Befreiung Tschechiens von der nationalsozialistischen Okkupation kritisiert Právo:
„Eine Radioreporterin fragte dieser Tage empört, wieso es bei uns immer noch Straßen gibt, die nach der Roten Armee benannt sind. Vermutlich handelte es sich um eine junge, unerfahrene Reporterin. ... Ja, die Zeiten haben sich geändert. Nach 1945 erlebten wir die kommunistische Machtergreifung 1948, das Ende des Prager Frühlings 1968, die Samtrevolution 1989 und schließlich den Zerfall der Sowjetunion. Aufgrund von Dokumenten aus Archiven hat sich unser Bild der vergangenen Zeit geändert. Eine Wahrheit aber wird immer bleiben: Den entscheidenden Teil unserer Republik befreite die Rote Armee.“
Vom Gedenktag zur Machtdemonstration
Wedomosti sorgt sich über die Verwandlung des in Russland gefeierten "Tag des Sieges":
„Von einem Gedenkritual, das vorrangig mit persönlicher Trauer angesichts der enormen Kriegsverluste verbunden ist, hat sich der Siegestag verwandelt in einen Anlass zur Erinnerung an den militärischen Triumph der Stalin-UdSSR und eine Bekräftigung des Machtstatus des gegenwärtigen Russlands als Erbe des sowjetischen Siegerstaats. ... Diese Transformation schließt allerdings unseren Nationalfeiertag aus den weltweiten Feiern des Siegs der Alliierten über den Faschismus aus, da es ihn zu einem Element staatlicher Propaganda und innerrussischer gesellschaftspolitischer Polemik macht. Paradoxerweise wächst der Pomp der Feierlichkeiten mit der größeren Distanz zum Jahr 1945 - und der Sinn des Feiertags wird immer zweifelhafter.“