Was vereint oder entzweit die Europäer?
Mit ihrer Stimme können die Bürger bei der Europawahl kommende Woche ein Signal für die Zukunft der EU setzen: Wählen sie europafreundliche Kräfte, die auf Kooperation setzen oder diejenigen, die die Union demontieren wollen? Europas Medien diskutieren Wege, wie die Europäer von der wachsenden Gemeinschaft profitieren können.
Ein Kontinent voller Vorbilder
Seine positive Vision für ein zusammenwachsendes Europa teilt Frank Appel, Chef der Deutsche Post Group DHL, in El País:
„Die Österreicher haben einen intelligenten Weg gefunden, den Bau einer genügenden Anzahl von Neubauwohnungen für ihre Hauptstadt zu garantieren. Schweden führte eine nationale CO2-Abgabe ein. Die Esten können uns viel in Sachen digitale Verwaltung lehren. Andere Länder können sich ein Beispiel am deutschen Ausbildungssystem nehmen. Die Niederländer haben ihrem Rentensystem ein gerechtes und zukunftsfähiges Fundament gegeben. ... Das wahre Potenzial des Kontinents kann nur ausgeschöpft werden, wenn die Länder, Regionen, Städte und Bürger der EU nach Lösungen suchen, die jenseits ihrer Grenzen gut funktioniert haben. Das ist die nötige Dimension der EU. Und ich bin fest davon überzeugt, dass dies ein erster Schritt in Richtung der Vereinigten Staaten von Europa ist.“
In der EU darf es nicht nur ums Geld gehen
Die EU darf sich nicht länger auf Wirtschaftspolitik beschränken, weiß der Ex-Chef der italienischen Notenbank Salvatore Rossi in Corriere della Sera:
„Woher kommen die wachsende Unzufriedenheit, die Zweifel, die Revolten vieler Europäer? Weil wir nicht nur von der Wirtschaft leben, sage ich - und das als Ökonom. … Die Wirtschaft, die Finanzen und der Euro, also der Geldbeutel der Europäer, reichen nicht mehr aus. Der große institutionell-rechtliche Überbau, der der europäischen Wirtschafts- und Finanzintegration gedient hat, darf nicht weggeworfen werden; er gehört korrigiert, aber nicht zerstört. Doch kann es nicht allein die Angst vor katastrophalen Folgen aus der Zerstörung des Bestehenden sein, der die Unzufriedenen im Zaum hält. Ihnen muss eine Perspektive geboten werden, die über die finanziellen Aspekte des Lebens hinausgeht.“
Fremdsprachen machen Fremde weniger fremd
Über allgemein gute Englischkenntnisse hinaus beherrscht einem Bericht zufolge etwa jeder vierte Schwede Deutsch und jeder zehnte Französisch. Das ist viel zu wenig, bedauert Göteborgs-Posten:
„Für den Touristen spielt es keine große Rolle. Aber es ist schade, dass Schweden es so schwer haben, jenseits von Bestellungen im Restaurant mit Deutschen und Franzosen zu kommunizieren. Wer die Sprache nicht versteht, hat es auch schwerer, das Land und seine Einwohner zu verstehen. Die Sprache ist der Schlüssel zu Informationen. ... Gewiss, man kann Nachrichten und Analysen über Frankreich und Deutschland auch auf Englisch bekommen. ... Aber wer Deutsch und Französisch beherrscht, muss sich nicht auf die Interpretation anderer verlassen, sondern kann selbst interpretieren - diese Selbstständigkeit ist sehr viel wert.“
EU muss autonomer werden
Die EU sollte ihre Zukunft in die eigene Hand nehmen, erklärt Die Presse:
„Während die USA der EU als Partner abhandenkommen, wecken ihr Wohlstand und ihre relative Schutzlosigkeit Begehrlichkeiten in China und Russland. Können die Europäer gegensteuern? Ja, indem sie alles daransetzen, ihre strategische Autonomie auszubauen: in wirtschaftlicher Hinsicht durch die Vollendung der Bankenunion, um zu verhindern, dass die Eurozone zur Geisel populistischer Schuldenmacher wird; nach außen durch möglichst gute Beziehungen zu Großbritannien post Brexit und durch ein engmaschiges Netz aus Handelsabkommen und im Inneren durch eine kluge Allianz liberal-europafreundlicher Kräfte nach der Europawahl.“
Bürger wollen nur Gerechtigkeit
In einem Interview mit dem Handelsblatt hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker moniert, dass sich die Europäer nicht mehr lieben würden. Ihnen sei die "kollektive Libido" abhandengekommen, weil sie zu wenig übereinander wüssten. Juncker ist es, dem das Wissen fehlt, meint Duma:
„Selbst wenn wir alles übereinander wissen, wird die kollektive Libido nicht größer werden, solange dieses Wissen nicht auch dort ankommt, wo die Entscheidungen getroffen werden. Ist es denn so schwer für Brüssel zu verstehen, dass sowohl in den alten als auch in den neuen EU-Mitgliedsländern die Bürger ein gutes Leben haben wollen, ohne beispielsweise zu sehr vom Kapital abhängig zu sein? Und dass die gemeinsamen europäischen Regeln willkommen sind, sofern sie tatsächlich für alle gleichermaßen gelten?“
Europa folgt den historischen Mustern
Dass Europa in Gefahr schwebt, ist bei weitem nichts Neues, wirft Historiker Timothy Garton Ash in La Repubblica ein:
„Zweifellos hat das Schauspiel eines einst großen Landes, das sich in einer Farce namens Brexit zum Gespött gemacht hat, alles Reden von EU-Austritten Ungarns, Polens oder Italiens zum Schweigen gebracht. Aber was Orbán und seine Gefährten im Sinn haben, ist eigentlich noch gefährlicher: Farage will die EU nur verlassen; sie schlagen vor, sie von innen heraus zu demontieren. ... Für die mit Weitsicht Gesegneten sollten diese wachsenden Anzeichen eines europäischen Zerfalls keine Überraschung sein. Ist dies nicht ein Muster, das uns aus der europäischen Geschichte bekannt ist? … Nach jedem Krieg dauerte die neue europäische Ordnung eine Weile an - mal kürzer, mal länger -, um sich dann abzunutzen und schließlich auseinanderzubrechen.“
Eine Zivilisation verschwindet
Düstere Aussichten zeichnet El Mundo:
„Gelbwesten, Europaskeptiker, Rebellen, Neofaschisten und Nationalpopulisten: es ist die neue Pest, die den Kontinent der Vernunft zerstören will. Ein Kontinent, auf dem die Europäer wohnen, die als einzige Erdbewohner nicht wissen, was Europa ist, und sich selbst nicht als Europäer verstehen. In dieser Region, die die US-Amerikaner als einen Kurort verstehen, den es mit ihren Soldaten zu schützen gilt, sind nun 400 Millionen Bürger zum Urnengang aufgerufen, um 751 Abgeordnete zu wählen, darunter 54 Spanier. Die EU spielt um ihr Leben. [Der ehemalige EU-Parlaments-Vorsitzende] Josep Borrell sagte es voraus: 'Wenn wir kein integrierteres Europa erschaffen, wird es als Zivilisation gegenüber den USA und China verschwinden.'“