75 Jahre D-Day: Paradoxes Gedenken
Zum Gedenken an den 75. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie haben sich eine ganze Reihe von Staats- und Regierungschefs am Mittwoch im südenglischen Portsmouth getroffen. Trump, May, Macron und Merkel erinnerten gemeinsam an die Militäroperation, die die Wende im Zweiten Weltkrieg brachte. Angesichts der heutigen Spannungen zwischen den westlichen Ländern mutet das Andenken an die Einigkeit von damals einigen Kommentatoren paradox an.
So hätte Hitler damals gewonnen
Für die Frankfurter Rundschau hatte das Gedenken noch nie einen so hohlen Beigeschmack wie 2019:
„Was sind das für Redner, die diesmal auf den gemeinsamen Kampf für das Gute hinweisen? Donald Trump treibt weltweit einen neuen Nationalismus an. Mit einer bei US-Präsidenten nie da gewesenen Feindseligkeit behandelt er das freie Europa, für dessen Freiheit seine Landsleute 1944 zahlreich gestorben sind. … Theresa May hat sich vom Amtsantritt bis zu ihrem bereits verkündeten jämmerlichen Rücktritt auf nichts anderes konzentriert als eine neue Abspaltung ihres Landes von der restlichen Europäischen Union. In Washington wie in London geht derzeit der Trend in Richtung Alleingang und Rückzug aus der Welt. … Hätte auch vor 75 Jahren in Washington und London solches Denken dominiert, hätte Hitler gewonnen.“
Vertauschte Rollen in der westlichen Welt
Ausgerechnet Deutschland ist heute einsamer Garant jener Werte, die die westlichen Alliierten zur Grundlage der Nachkriegsordnung in Europa machen wollten, konstatiert The Guardian:
„Am ersten Jahrestag des D-Day im Jahr 1945, als der Krieg gerade gewonnen war, sprach US-General Eisenhower vor einer begeisterten Menschenmenge in London. ... Er rief dazu auf, die Bande zwischen den einzelnen Ländern - 'Russland, Frankreich, China und all die anderen großen Staaten sollten einbezogen werden' - niemals aufzulösen. Es ist eine der Perversitäten der Geschichte, dass heute, 75 Jahre nach dem D-Day, die deutsche Kanzlerin, und nicht der US-Präsident oder die britische Premierministerin, für die Werte steht, die Eisenhower vor so vielen Jahren proklamierte und für die die Soldaten 1944 auf die Strände gestürmt waren.“
Das Opfer unserer Vorfahren ist unser Glück
An den Zweck derartiger Zeremonien erinnert in Le Figaro die emeritierte Professorin für politische Philosophie, Chantal Delsol:
„Die Gedenkfeiern haben das alleinige Ziel, in Erinnerung zu rufen, dass unsere Großartigkeit, all unsere Freuden und unsere Glückssterne verbunden sind mit Unglück und Tragödien. Sie sollen uns vor Augen führen, dass unsere Freiheit den Dämonen der Knechtschaft entrissen wurde, der Frieden den Anhängern von Gewalt. Und uns daran erinnern, dass das alles keineswegs kostenlos ist und der Gunst des Schicksals zu verdanken - sondern ein Geschenk unserer selbstlosen Vorfahren, die dafür ihr Blut geopfert haben. Das Gedenken an den längsten Tag erinnert uns daran, dass die Existenz des Menschen tragisch ist und dass alles, was großartig ist, wahrlich nicht für immer errungen ist, sondern ständig neu verdient werden will.“
Europa braucht eigene Streitkräfte
75 Jahre nach dem D-Day am 6. Juni 1944 weht in Europa ein anderer Wind, stellt El País fest:
„Seit die amerikanischen Soldaten an den Stränden der Normandie landeten, hat die Präsenz des US-Militärs die Sicherheit der europäischen Demokratien garantiert. Aber dieses Konzept ist in Frage gestellt in einem Moment, in dem die internationale Lage besonders instabil ist. Die militärische Eigenständigkeit Europas ist nicht mehr länger eine theoretische Option, sondern ist zumindest wünschenswert, wenn nicht gar notwendig geworden.“