Was verändert die Wahl in Istanbul?

Die erneute Oberbürgermeisterwahl in Istanbul hat Oppositionskandidat Ekrem İmamoğlu mit großem Abstand gegen den AKP-Mann Binali Yıldırım gewonnen. Dies ist umso bemerkenswerter, als dass Erdoğans Partei eine Wiederholung der Abstimmung durchgesetzt hatte. Beobachter diskutieren, was von den Kontrahenten İmamoğlu und Erdoğan zu erwarten ist.

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The Irish Times (IE) /

CHP nüchtern betrachten

Wer sich vom neuen Istanbuler Bürgermeister und seiner Partei einen großen politischen Reformschub erwartet, könnte schnell enttäuscht werden, meint The Irish Times:

„Ekrem İmamoğlu ist zu unerfahren, um die Stellung von Präsident Erdoğan unmittelbar zu bedrohen. In seiner eigenen Partei ist Erdoğan ohnehin unangreifbar. Darüber hinaus ist die politische Basis des emporgekommenen Bürgermeisters, die Republikanische Volkspartei (CHP), wohl kaum ein Bollwerk für neue Ideen und eine Sozialdemokratie nach europäischem Vorbild. Sie wurde von Kemal Atatürk gegründet, dem soldatenhaften Staatsmann, der die Republik nach dem Ersten Weltkrieg aus den Ruinen des Osmanischen Reiches formte. Die CHP war lange Zeit reaktionär, kontrollsüchtig und schloss bestimmte Gruppen vom politischen Prozess aus – so wie heute Erdoğans Partei.“

De Tijd (BE) /

Steiniger Weg zu einer schöneren Türkei

Nach dem Wahlsieg in Istanbul steht Ekrem Imamoğlu nun vor einer schweren Aufgabe, analysiert der Politologe Dirk Rochtus in De Tijd:

„Vielleicht wird er Kandidat der Opposition bei der nationalen Wahl. Er darf nicht Erdoğans Fehler wiederholen und ausgrenzen, sondern muss alle kulturellen und weltanschaulichen Gruppen vereinen in einem Projekt für eine pluralistische Türkei. Die Herausforderungen sind groß - ebenso wie die Gefahren. Erdoğan leckt seine Wunden. Sein politisches Ende ist vielleicht nur eine Frage der Zeit, doch er kann immer noch Sand ins Getriebe streuen. Der Weg zu einer schöneren Türkei ist voller Hindernisse.“

TVXS (GR) /

Griechenland könnte es ausbaden müssen

Dass Erdoğan jetzt noch unberechenbarer wird als zuvor, fürchtet Tvxs:

„Die kapitale Niederlage von Erdoğan ist bei weitem nicht auf die Wahl an sich beschränkt. Aber das bedeutet nicht, dass der 'Sultan' nun mit verschränkten Armen sitzenbleiben und die Schlappe akzeptieren wird. … Ein Präsident Erdoğan, der sich in einer schwierigen Position befindet und ein Comeback versuchen wird, ist allerdings problematisch. Dies könnte insbesondere die griechisch-türkische Beziehungen und die Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) von Zypern und Griechenland betreffen. Dies zeigte sich schon in den letzten Tagen, als Erdoğan möglicherweise vor der Wahl eine Polarisierung anstrebte. Was diese offensichtliche Destabilisierung betrifft, ist er äußerst unvorhersehbar.“

Lietuvos rytas (LT) /

Die Demokratie hat noch eine Chance

Lietuvos rytas kann die Freude über den Ausgang der Istanbuler Wahl kaum verhehlen:

„Es schien so, dass der Präsident der Türkei alles hatte - eine geänderte Verfassung, ein gehorsames Parlament, eine loyale Armee. Doch plötzlich, oh weh, verpuffen die lokalen Wahlen in seiner Heimatstadt Istanbul. Von dort aus ist er ja einst in die große Politik katapultiert worden. Erdoğan wird nervös, erklärt die Differenz von 13.000 Stimmen als verfälscht, kündigt eine neue Wahl an. Aber, guten Morgen, diesmal gewinnt die Opposition schon mit 800.000 Stimmen und veranstaltet auf den Straßen Istanbuls eine Riesenfete, während der Präsident nervös an seinem Schnurrbart kaut. ... Schreiben wir also die liberale Demokratie nicht zu schnell ab.“

Journal 21 (CH) /

Präsident könnte Schrauben noch fester anziehen

Dass Erdoğan so mächtig ist wie eh und je, glaubt hingegen Journal 21:

„Trotz der Wahlschlappe in Istanbul hält der Präsident die Macht fest in den Händen. Das von ihm eingeführte Präsidialsystem erlaubt es ihm, zu tun und zu lassen, was er will. Verantwortlich ist er gegenüber niemandem. In diktatorischer Manier knebelt er weiterhin die Medien. Fast täglich werden Oppositionelle verhaftet. Überall wittert er Putschisten, Terroristen und 'vom Ausland gesteuerte' Feinde. ... Dass das höchste Wahlgericht die Wahlen vom 31. März annulliert hatte, zeigt, dass die Gerichte nicht unabhängig sind. Erdoğan könnte die Wahlschlappe in Istanbul zum Anlass nehmen, jetzt noch härter gegen seine Gegner vorzugehen.“

Karar (TR) /

Erdoğan sollte sich beraten lassen

Nach Gründen für die Niederlage von Erdoğans Partei sucht die konservative Tageszeitung Karar:

„Die AKP wurde als Kaderpartei gegründet, bewahrte diesen Charakter zunächst und konnte damit wirtschaftliche und außenpolitische Probleme bewältigen. Doch in letzter Zeit hat sie diesen Charakter immer mehr verloren. Durch die Personalisierung der Führung, die Zentralisierung und die Beschränkung der Kontrolle auf einen engen Kreis nahm die politische Qualität rapide ab. Loyalität wurde zum Kriterium, um einen Posten in der Partei ebenso wie in der Regierung zu übernehmen - nicht Kompetenz und Verdienst. Es gibt in der Partei niemanden mehr, der direkt hinter dem Chef säße, auf dessen Wort gehört würde und der seinen Einfluss geltend machen könnte.“

Deutsche Welle (RO) /

Auch religiöse Türken haben den Tyrannen satt

Immer mehr Türken haben die Nase voll von ihrem Präsidenten, glaubt der Rumänische Dienst der Deutschen Welle:

„Zwar ist Istanbul nicht die Türkei. Istanbul ist nicht das weite Anatolien, sondern präsentiert wie Izmir die europäische Türkei. Doch es ist klar, dass die rund zehn Prozentpunkte Vorsprung, die den Wahlgewinner vom besiegten Islamisten trennen, auch Stimmen von religiösen Türken beinhalten, die sich von Erdoğan verabschiedet haben. Warum? Nicht, weil sie plötzlich ihren Glauben verloren haben. Sondern, weil sie über alle Maßen den Tyrannen satt haben, seine Gaunereien, die Ungerechtigkeiten und seinen unersättlichen Machthunger.“

Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Anfang vom Ende einer Ära

Die Allmacht von Präsident Erdoğan bröckelt, konstatiert die Neue Zürcher Zeitung:

„Diese erste wirkliche und grosse Niederlage Erdoğans markiert eine Zäsur. Denn wenngleich der Präsident weiter am längeren Hebel sitzen wird, wenngleich der Staatsapparat und die Justiz auf seinen Willen hören und die Medien keinen Widerspruch mehr leisten, kann er seine autoritäre Herrschaft nicht mehr allein mit dem 'nationalen Willen' begründen. Dieser Automatismus funktioniert seit dem 23. Juni nicht mehr, und das könnte auf lange Sicht tatsächlich den Anfang vom Ende der Ära Erdoğan einleiten.“

Libération (FR) /

Präsident in der Bredouille

Auch Jérémie Berlioux, Türkei-Korrespondent von Libération, sieht Erdoğan nun in Bedrängnis:

„Obwohl die Stadtverordnetenversammlung und die Mehrheit der Bezirke in der Hand der AKP sind, erhält İmamoğlu eine Machtposition. 'Wenn wir beobachten, dass es zu Behinderungen kommt, werden wir das den Bürgern mitteilen', kündigte er nach seinem Sieg an. Erdoğan hat ihm gegenüber jetzt nur gefährliche Optionen. Lässt er İmamoğlu in Frieden regieren, könnte dieser zu einem ernsthaften Gegner bei der Präsidentschaftswahl 2023 werden. Wirft er ihm Knüppel zwischen die Beine, würde er ihn noch mehr zum Opfer stilisieren und seine Stellung als neuer Held der Opposition stärken.“

Habertürk (TR) /

Wahlwiederholung war großer Fehler der AKP

Mit der Wiederholung der Wahl hat sich die AKP keinen Gefallen getan, meint Kolumnistin Nihal Bengisu Karaca in Habertürk:

„Es gab keinen Grund, die Wahlergebnisse vom 31. März nicht anzuerkennen. ... Dass der Abstand zwischen beiden Kandidaten nun so groß ist, bringe ich mit den Ereignissen der letzten Tage in Verbindung, die sehr, sehr eigenartig waren. ... Es war, als ob ein Kind das Cockpit betreten und alle Knöpfe vor sich gedrückt habe. ... In der Angst, Istanbul ein zweites Mal zu verlieren, wurden so schnelle und so widersprüchliche Dinge getan, dass jedem mit einem bisschen Erinnerungsvermögen schwindelig wurde. ... İmamoğlu wurde immer wieder verleumdet und gewann schließlich ein zweites Mal - und zwar deutlich.“

Index (HU) /

In Istanbul stehen die Geldtöpfe

Der Wahlsieg von Ekrem İmamoğlu hat Symbolcharakter, aber auch finanzielle Konsequenzen, kommentiert Index:

„Er bedeutet, dass die AKP bei den Wahlen im März und bei der Wiederholung am Sonntag Istanbul und Ankara an die vereinte Opposition verloren hat, während die dritte große Stadt, Izmir, im Westen des Landes, sowieso traditionell kemalistisch ist. Auch Erdoğan selbst begann seine Karriere als Bürgermeister von Istanbul. Doch neben der symbolischen Bedeutung war es auch wirtschaftlich wichtig, wer die Wahlen gewinnt. Die Opposition hat mit dem Zugriff auf die Istanbuler Geldhähne große wirtschaftliche Möglichkeiten, während der Einfluss der AKP auf das Geschäftsleben abnimmt und die Parteienfinanzierung schwieriger wird.“