Akzeptiert die AKP die Wahlschlappe in Istanbul?
Mit knappem Vorsprung scheint der CHP-Kandidat İmamoğlu die Wahl zum Bürgermeister Istanbuls gewonnen zu haben. Der oberste Wahlrat lehnt eine komplette Neuauszählung ab, nun fordert die AKP eine Wiederholung der Wahl. Erdoğan sprach von einem "organisierten Verbrechen" beim Urnengang. Kommentatoren diskutieren, wer recht hat.
Die Türkei ist doch keine Bananenrepublik!
Dass die Opposition darauf beharrt, die Wahl gewonnen zu haben, stimmt Milliyet misstrauisch:
„Das Verhalten von Ekrem İmamoğlu [Bürgermeisterkandidat der CHP für Istanbul] und einiger anderer CHP-Leute - wir kennen sie alle - ist nicht nachvollziehbar. Sie sind in verdächtiger Hast. So wie Kinder nach ihrem Schnuller schreien, verlangt die CHP nach der Ernennungsurkunde. ... Das hier ist doch keine Bananenrepublik! Das hier ist ein Rechtsstaat, und deshalb wird hier gerade getan, was das Recht vorsieht. ... Sollen wir ihn etwa noch vor Abschluss der Prozedur oder gar vor Auszählung der Stimmen zum Bürgermeister küren? Warum diese Aufregung und Eile? Als wolle man sich etwas nehmen und davonlaufen. Oder wissen sie etwa von etwas, wovon wir nichts wissen?“
Typische Denkweise eines autoritären Herrschers
Wenig überraschend erweist sich Erdoğan als schlechter Verlierer, kommentiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Der Präsident, der seit dem Putschversuch 2016 seine Macht drastisch ausgeweitet hat, sieht natürlich nicht ein, dass der Grund für die Wahlniederlage der AKP Unzufriedenheit der Wähler ist, zum Beispiel mit der Lage der Wirtschaft. Nein, nur kriminelle Machenschaften können schuld sein. Das ist die typische Denkweise des autoritären Herrschers, der sich jede Form von Machtverlust nur als Verbrechen vorstellen kann. Demokratie ist dann, wenn er gewinnt.“
Ein Test rechtsstaatlicher Normen
Turun Sanomat kritisiert die Neuauszählung in Istanbul:
„Die Kommunalwahl hat gezeigt, dass die Opposition trotz des landesweiten AKP-Sieges noch immer etwas zu sagen hat. Trotz der Appelle von Erdoğan und den von der Regierungspartei kontrollierten Medien hat die AKP die Wahl in fünf der sechs größten Städte der Türkei verloren. Nach den letzten Kommunalwahlen forderte die Opposition erfolglos eine Neuauszählung. Diesmal wollten Erdoğan und die AKP eine teilweise Neuauszählung der Stimmen in Istanbul. Neuauszählungen gehören zu den Prinzipien des Rechtsstaats. Die Umwandlung eines nicht genehmen Ergebnisses nicht. In der Türkei wird erneut die Umsetzung einer rechtsstaatlichen Norm getestet, die ein Kriterium der EU-Mitgliedschaft ist.“
Propaganda für Wahlwiederholung
Die AKP verfolgt mit der Forderung nach Neuauszählung der Stimmen in Istanbul und anderen Städten mit knappem Ergebnis ein bestimmtes Ziel, glaubt T24:
„Der Grund dafür, dass sie jetzt sagen, dass alle Stimmen noch einmal ausgezählt werden müssten, ist, dass sie verstanden haben, dass die Neuauszählung nur der ungültigen Stimmen keine Veränderung bringen würde. Bald werden sie sagen, dass diese 'umstrittene Wahl' annulliert und wiederholt werden müsste. Dafür legen sie gerade die Grundlage. Der Hohe Wahlrat YSK kann dies bestimmen und sie wissen genau, dass ein Einspruch dagegen nicht möglich ist. Kann der Rat eine solche Entscheidung treffen? Ja, kann er. Auch wenn es unterschriebene Protokolle der Wahlkreise gibt, was würde er nicht alles tun, wenn der Befehl von ganz oben kommt?“
Präsident in der Zwickmühle
Für die Frankfurter Rundschau steht Erdoğan vor einem Dilemma:
„Erkennt er den Triumph des CHP-Kandidaten Ekrem İmamoğlu an, könnte ihm ein gefährlicher Präsidentschaftskonkurrent erwachsen. Missachtet er den Wählerwillen, überschritte er die rote Linie zur Diktatur. Er würde nicht nur einen Volksaufstand riskieren, sondern auch seine eigene Legitimität beschädigen und das Vertrauen der Märkte weiter untergraben. Die EU sollte ihn daran erinnern, wie sehr sein Land ausländische Investitionen braucht und wie wichtig dafür ein rechtsstaatliches Umfeld ist.“
Ganz dünnes Eis
Mit wem sich Erdoğan auf eine Stufe stellt, falls er bis zum Äußersten gehen sollte, erläutert Svenska Dagbladet:
„Trotz des Verlustes in den größeren Städten stimmt die Mehrheit der Wähler für die AKP und die Partei hat nach wie vor die Kontrolle über die wichtigsten nationalen Bereiche. Erdoğan drängt jetzt auf eine Neuauszählung der Stimmen in Istanbul. Die Befürchtung ist, dass er so weit gehen wird, wie es nötig ist, um die Stadt zu halten. ... Wenn er den Menschen keine freie Wahl lässt, rutscht er immer weiter in die Richtung des dünnen Eises, auf dem sich die Diktatoren des Nahen Ostens bereits befinden.“