Neuer Brexit-Deal: Hat es Johnson geschafft?
Zwei Wochen vor dem Austrittstermin haben sich die EU und Großbritannien auf ein neues Abkommen zum Brexit geeinigt. Es sieht unter anderem vor, dass Nordirland zum britischen Zollgebiet gehört, aber die EU-Regeln zum Binnenmarkt dort weiterhin gelten. Am Samstag soll das britische Unterhaus über den Deal abstimmen. Europas Medien überlegen, wie es nun weitergeht.
Nun beginnt die schmerzhafte Scheidung
Ein ungeregelter Austritt Großbritanniens könne verhindert werden, lobt De Volkskrant, warnt jedoch davor, zu früh aufzuatmen:
„Es ist eine komplizierte Regelung, aber sie verhindert auf jeden Fall, dass die nationalistischen Fieberträume der Engländer den Frieden in Nordirland in Gefahr bringen . ... Wenn das Unterhaus zustimmt, kann der Brexit vonstattengehen. Ein 'No Deal' wäre verhindert. ... Dennoch wird dies nur der Anfang eines langen und schmerzhaften Scheidungsverfahrens sein. Nach dem Brexit beginnen die komplizierten Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und Großbritannien über ein Handelsabkommen. Die Frage bleibt dieselbe: Wie kann Europa eine gute politische und wirtschaftliche Beziehung zu Großbritannien behalten, ohne dass London nur die Vorteile, aber nicht die Lasten der EU trägt?“
Opposition macht es Johnson leicht
Die Bedingungen für Johnson sind nicht die schlechtesten, erklärt Der Standard:
„Dass seinem Brexit-Vabanquespiel ... Erfolg beschieden sein könnte, hat mit der Schwäche der Opposition zu tun. Mitten in der schwersten außen- und innenpolitischen Krise der Nachkriegszeit verfolgen Sozialdemokraten, Liberaldemokraten, Grüne und Nationalisten alle nur ihre engen parteipolitischen Interessen. Die Labour-Partei leistet sich zudem als Vorsitzenden den zutiefst unpopulären Jeremy Corbyn, einen zur Führung ungeeigneten, an Machtfragen uninteressierten, von Europa gelangweilten Gesinnungsethiker. Und das zynische Spiel der schottischen Nationalisten zielt einzig und allein auf die Unabhängigkeit ab; die beiden Seiten in Nordirland werden von mediokren, schmerzhaften Kompromissen gegenüber unwilligen Figuren geleitet.“
So hat Brüssel auch London kleingekriegt
Johnson musste sich der EU letztlich unterwerfen, findet Protagon:
„Boris Johnson ging in etwa denselben Weg, den auch Griechenlands Ex-Premier Tsipras ging [bei den Verhandlungen mit der EU 2015]. Er begann mit der Ankündigung, einen heldenhaften Ausstieg ohne Deal zu ermöglichen und landete dann schließlich bei einer Einigung, die auch Theresa May vorgeschlagen wurde - nur unter einem anderen Namen und schlechteren Bedingungen. Vielleicht bekam er auch ein freundliches Tätscheln auf die Wange von Jean-Claude Juncker, der zum Ende seiner Amtszeit als EU-Kommissionspräsident alle noch einmal daran erinnerte, dass der harte Kern Europas nur dann in Verhandlungen nachgibt, wenn er sich als nachgiebig darstellen will.“
Premier opferte Nordirlands Unionisten
Um das Abkommen mit der EU besiegeln zu können, nahm der britische Premier keine Rücksicht mehr auf seine bisherigen Unterstützer von der nordirischen Unionistenpartei DUP, analysiert RTE News:
„Die DUP musste eine schreckliche Lektion über Boris Johnson lernen. Noch sitzt der Schock zu tief, um es zu realisieren, doch hier handelte es sich um einen Fall 'knallharter Liebe'. Die DUP musste zu ihrem eigenen Leidwesen erkennen, dass Johnson politisch schnell einmal den Partner wechselt. ... Es ist nicht so, dass er die DUP aus Eigennutz verriet, nein, er nahm im Finale der Verhandlungen schlicht keine Rücksicht mehr auf sie. Das einzige was noch zählte, war schiere Machtpolitik. ... Niemand geht durchs Leben, ohne dabei Schläge einstecken zu müssen, besonders in der Politik. Nun traf es die DUP.“
Die Schotten werden keine Ruhe geben
Der Deal wird auf jeden Fall Widerstand in Schottland hervorrufen, prophezeit Kolumnist Gerardo Morina in Corriere del Ticino:
„Selbst wenn man versucht, das Glas als halb voll zu betrachten und eine knappe Mehrheit in Westminster 'Ja' sagt, wird Johnson sich kaum als gerettet erachten können. ... Die Gegner, die im Referendum 2016 für 'Remain' gestimmt haben, werden ihm keine Ruhe lassen. Insbesondere die Mitglieder der Schottischen Nationalpartei (SNP) werden ihm das Leben schwer machen und ihn weiterhin daran erinnern, dass Schottland gegen einen Brexit in welcher Form auch immer gestimmt hat. Für Edinburgh wird es vor allem eine Gelegenheit sein, ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands zu fordern, nachdem das erste gescheitert ist. ... Und diesmal ohne unbedingt den Konsens mit London zu suchen.“
Backstop nur für Nordirland
Johnson will dem verhassten Backstop nun doch zustimmen, allerdings nur für Nordirland, erklärt La Repubblica:
„Nordirland opfern, es den Europäern für einige Jahre überlassen, die nordirischen Unionisten des DUP vor den Kopf stoßen, um eine fast wundersame Einigung über den Brexit zu erzielen. Es ist ein 'all in', ein Alles oder Nichts. Johnson hat sich entschieden, das Risiko einzugehen. ... Nur muss die Vereinbarung auch die Hürde von Westminster nehmen. Wo die Abstimmung an einem seidenen Faden hängt. Denn die Unionisten werden den schmerzhaften Kompromiss kaum akzeptieren, den Johnson als ein neues 'fantaaaastisches' Abkommen bezeichnet: Dabei handelt es sich nur um eine clevere Version des Plans, den Theresa May Anfang 2018 in Betracht zog, nämlich eine Art 'Backstop', der nur für Nordirland gilt.“
Alter Wein in neuen Schläuchen
Auch die Presse beobachtet gewisse Ähnlichkeiten mit Theresa Mays Deal:
„[Die] Konturen, die sich hinter ... all den theatralischen Drohungen vom Austritt ohne Wenn und Aber erkennen lassen, ähneln frappant dem Kernstück des ursprünglichen Deals zwischen May und der EU. ... Wie ist es möglich, dass Tories, die Mays Deal in der Luft zerrissen haben, nun jubilieren? Das hängt zum einen mit dem Charisma ihres Nachfolgers zusammen. Wäre Johnson nicht Premier, sondern Gebrauchtwagenhändler, könnte er jede Rostschüssel loswerden. Zum anderen sind viele Konservative vom Brexit übersättigt und wollen endlich einen Schlussstrich ziehen. Mays Fall erfüllt in diesem Zusammenhang die Rolle eines rituellen Opfers, das dem Götzen des europafeindlichen Populismus dargebracht wurde.“
Auch dieser Vorschlag wird scheitern
Um ein solches Abkommen durchs britische Unterhaus zu bringen, wird Boris Johnson wohl Stimmen von Labour-Abgeordneten benötigen - die er aber nicht bekommen wird, meint The Daily Telegraph:
„Die überzeugtesten Brexit-Anhänger in der Labour-Fraktion sind alteingesessene Parteimitglieder der Linken. Sie haben nicht Jahrzehnte fernab der Schaltstellen der Macht verbracht, um nun Jeremy Corbyns Einfluss in der Partei zu riskieren, indem sie [gegen seinen Willen] für einen von Johnson ausgehandelten Brexit-Deal stimmen. ... Aber die größere Gruppe sind jene Abgeordneten, die nicht dem Corbyn-Lager zuzurechnen sind. ... Sie wissen wie die Parteiführung: Wenn Labour für die Umsetzung des Brexit stimmt, wird [die pro-europäische Chefin der Liberaldemokraten] Jo Swinson im ganzen Land verkünden, dass Labour den Brexit ermöglicht habe.“
Für Johnson lohnt sich ein Deal
Warum Johnson nun doch noch eine Einigung anstrebt, erklärt hvg:
„Von einem Abkommen kann Johnson nach jetzigem Stand nur profitieren. Wenn er bei einer vorgezogenen Parlamentswahl als derjenige auftritt, der den Brexit ermöglicht hat, dann bleibt Nigel Farage von der Brexit-Partei nichts mehr übrig, womit er seine Anhänger mobilisieren kann. ... Johnson kann sogar die Tory-Wähler zurückgewinnen, die zu Farage gewechselt sind. Ein Austritt ohne Abkommen kann hingegen zu einer chaotischen Situation führen, für die Johnson im Falle einer Wahl einen hohen politischen Preis bezahlen würde.“