Al-Baghdadi ist tot - was muss nun folgen?
Der Anführer und Gründer des "Islamischen Staats", Abu Bakr al-Baghdadi, ist tot. Spezialkräfte der US-Armee haben Trump zufolge im Nordwesten Syriens eine Operation gegen al-Baghdadi unternommen, an deren Ende sich der Terroristenführer in die Luft sprengte. Doch damit ist der Kampf gegen die IS-Miliz und dschihadistischen Terror noch lange nicht beendet, mahnen Kommentatoren.
Gebiete wiederaufbauen und IS-Kämpfer zurücknehmen
Independent Arabia erklärt, was nun zu tun ist, um den Einfluss der IS-Miliz wirklich einzudämmen:
„Die Gefahr des Extremismus kann nur wirkungsvoll bekämpft werden, wenn die internationale Gemeinschaft sich um die Stabilität und den Wiederaufbau in den Gebieten kümmert, die von der IS-Miliz beherrscht wurden. ... Außerdem sollten die westlichen Staaten sich ihrer Verantwortung stellen. Sie müssen ihre Bürger, egal ob voll- oder minderjährig, die sich der IS-Miliz angeschlossen haben, zurücknehmen, vor Gericht stellen und wieder in die Gesellschaft integrieren. Sie dürfen sich nicht davor drücken, weil ihnen der politische Preis zu hoch sei. ... Diese Schritte sind notwendig, will die Welt wirklich vom 'Sieg' über den Terror sprechen.“
Ohne Verbündete kann Terror nicht besiegt werden
Die geglückte Operation gegen al-Baghdadi müsste dem US-Präsidenten eigentlich die Augen öffnen, findet Dagens Nyheter:
„Drei Lehren sollte Trump ziehen: dass es Vorteile bringt, Soldaten vor Ort zu haben, dass das Wissen des US-Geheimdienstes vonnöten ist und dass die Pflege der Verbündeten von Wert ist. Leider glaubt er an nichts davon. ... Wahrscheinlich werden die US-Amerikaner in Zukunft aber mehr Freunde brauchen, nicht weniger. Al-Baghdadi ist zwar tot, jedoch nicht das Phänomen Terrorismus. Wenn Trump den Nahen Osten verlässt, gibt es viele unangenehme Kräfte, die die Leere füllen können. ... Neue Konflikte werden hier oder woanders in der Welt entstehen. Das Risiko besteht, dass es den USA künftig schwerer fallen wird, potenzielle Verbündete zu überzeugen.“
Türkei muss weiter wachsam bleiben
Für die Türkei bedeutet al-Baghdadis Tod noch lange nicht das Ende des Terrorismus, warnt Hürriyet Daily News:
„Dieses Land hat so sehr unter allen Arten von Terrorismus gelitten. Deshalb war der Tod von al-Baghdadi zwar eine willkommene Nachricht, aber gleichzeitig auch ein Weckruf, die Sicherheitsmaßnahmen und die Aufklärungsarbeit weiter zu verstärken und alle möglichen Präventionsmaßnahmen zu ergreifen. Dabei sollte natürlich alles daran gesetzt werden, die bereits beeinträchtigten Menschenrechte und die Meinungsfreiheit im Land nicht weiter zu gefährden.“
Triumphgebaren völlig fehl am Platz
Trump sollte sich nicht zu früh freuen, warnt The Irish Independent:
„Selbst diejenigen, die Al-Baghdadis Tod begrüßen, werden angesichts von Trumps Triumphgebaren zusammenzucken. ... Trump liefert den unschönen Anblick eines weiteren amerikanischen Führers, der mit dem Tod eines Individuums den Job für erledigt erklärt. Das ist er nicht und wird es auch nie sein. Eine Reihe aufeinanderfolgender Präsidenten musste schmerzhaft lernen: Durch die Tötung des Anführers eines feindlichen Regimes - sei es eine tatsächliche Regierung wie im Irak und in Libyen oder eine terroristischer Organisation und ein imaginäres 'Kalifat' wie bei Osama bin Laden und al-Baghdadi - wird nur selten etwas besser.“
Der weiße Mann spricht zu seinem Stamm
Keinen Zweifel daran, dass es sich bei der Operation um eine Wahlstrategie handelt, hat Politologe Vittorio E. Parsi in Avvenire:
„Es geht weder um den Kampf gegen den Terrorismus noch um die internationale Zivilgesellschaft, geschweige denn die öffentliche Meinung in der muslimischen Welt. ... Trump spricht zu 'seinem' Stamm, aus Gründen der reinen Wahltaktik, um den inneren Zusammenhalt zu stärken, indem er einen Feind vorzeigt. Der Tod eines Verfechters des gewalttätigen islamistischen Radikalismus wird genutzt, um einen (neo-)konservativen Radikalismus zu vereinen, der dem weißen Suprematismus zublinzelt und auf das Prinzip Mauer gegen Mauer abzielt. ... Da dies das Ziel ist und der eigentliche Empfänger der Botschaft die potenziellen Wähler sind, lohnt es sich für Trump durchaus, die Sensibilität von einigen hundert Millionen Muslimen in der Welt zu verletzen.“
Erfinder des Just-do-it-Terrorismus
Warum der IS-Terror auch nach dem Tod Baghdadis fortbestehen wird, erklärt Gazeta Wyborcza:
„Baghdadi hat den 'Terrorismus im Nike-Style' erfunden, Angriffe nach dem Motto 'Just do it!'. In seinen Videos forderte er seine Leute wiederholt dazu auf, lokal und schnell zu handeln. Anstatt jahrelang Pläne zu schmieden und Geld für große Bomben anzusammeln, sollten sie kleine Bomben bauen, gleich zu den Waffen greifen oder Lastwagen entführen und mit ihnen in die Menge rasen. Auf diese Weise hat er die Reichweite des IS-Terrorismus erheblich erhöht: Jeder Verrückte, auch am anderen Ende der Welt, kann in seinem Namen zur Waffe greifen.“
Terroristen haben einen neuen Märtyrer
Dass der Terroristenführer tot ist, freut The Independent überhaupt nicht:
„Wir hätten der Welt [mit einem Gerichtsverfahren gegen Baghdadi] unsere überlegenen zivilen Standards beweisen können. Stattdessen haben die bewaffneten Dschihadisten einen weiteren Märtyrer. Der Punkt ist, dass die Islamisten nicht verschwinden oder aufgeben werden, nur weil es Baghdadi nicht mehr gibt. Tatsächlich hat derselbe prahlerische Donald Trump, der sich nun in obszönem Selbstlob für Baghadis Tod suhlt, dem IS durch den Rückzug der amerikanischen Truppen aus Syrien wieder Leben eingehaucht.“
Die Ideologie lebt weiter
Nicht der Anführer mobilisierte die Anhänger des IS, erklärt der Tages-Anzeiger:
„Abu Bakr al-Baghdadi war nie ein charismatischer Führer. Im krassen Gegensatz zur hochprofessionell produzierten und den Sehgewohnheiten der Smartphone-Generation entsprechenden Propaganda der Terrororganisation inszenierte sich ihr Chef selbst äußerst spröde. Baghdadi mag an der Spitze des IS gestanden haben - doch was dessen Anhänger auf allen Erdteilen faszinierte, war nie sein Führer. Sondern die Idee eines neuerlichen Kalifats selbst, das in der Gegenwart Gestalt annimmt und nicht in einer fernen Zukunft. Diese Idee, der die obrigkeitshörigen muslimischen Autoritäten so wenig entgegenzusetzen hatten, bleibt erhalten.“
Hass wird nur durch Bildung und Toleranz besiegt
Auch Večernji list ist der Meinung, dass die Terrororganisation IS nicht mit ihrem Anführer zugrunde geht:
„Nach dem Tod des Terroristen Abu Bakr al-Bagdhadi stellt sich die Frage, ob sein Werk, der sogenannte Islamische Staat oder das Kalifat, welches er 2014 ausrief, bestehen bleibt. ... Al-Kaida blieb auch nach dem Tod von Osama bin Laden bestehen. Manche Bewegungen überstehen den Tod ihres Gründers aufgrund ihrer Ideen und Ideologien. Die Ideologie, die hinter Al-Kaida und dem IS steht, war der Hass gegenüber Christen und allen Andersgläubigen. Eine Ideologie des Hasses besiegt man durch Bildung, Toleranz und Liebe seinem Nächsten gegenüber.“
Erst die USA machten ihn zum Dschihadisten
Ibrahim al-Badri, so der bürgerliche Name des Terroristenführers, hat sich erst durch die US-Invasion im Irak radikalisiert, meint Tygodnik Powszechny:
„Der Krieg, der im Irak durch das Auftreten der US-Amerikaner ausbrach, veränderte das Leben Ibrahims für immer. Die Invasion löste Armee, Polizei, Gerichte, Behörden und die Regierung des abgesetzten Tyrannen Saddam Hussein auf. Von einem Tag auf den anderen befanden sich eine halbe Million Menschen, darunter Soldaten, Polizisten und Sicherheitsbeamte, auf der Straße. ... Zehn Monate im amerikanischen Gefängnis von Bucca waren seine Dschihad-Akademie. Hinter Gittern traf er festgenommene Offiziere von Saddams Armee und Dschihadisten, die in den Irak gekommen waren, um den heiligen Krieg gegen die Amerikaner zu führen.“