US-Abzug: Was wird aus den syrischen Kurden?
Die USA haben mit dem Abzug ihrer Truppen aus Nordsyrien begonnen. Gleichzeitig hat die türkische Armee mitgeteilt, die Vorbereitungen für eine Offensive in dem Gebiet abgeschlossen zu haben. Bislang hatte sich Washington gegen einen türkischen Einmarsch in Syrien gestellt, um die verbündeten kurdischen Milizen zu schützen. Kommentatoren fürchten eine weitere Destabilisierung der Region und kritisieren Trump.
Trump treibt Kurden in die Arme von Assad
Die Türkei wird zur größten Gefahr für die syrischen Kurden, analysiert die Wiener Zeitung:
„Die Türkei, die sich im Kampf gegen den IS nicht allzu sehr hervorgetan hat, betrachtet die kurdischen Milizen auf syrischem Territorium als stärkere Bedrohung als die Dschihadisten. Schließlich hat es die Regierung in Ankara seit vielen Jahren mit einem Aufstand der Kurden im Südosten der Türkei zu tun. ... Mit dem Abzug von US-Truppen wird ein militärischer Konflikt zwischen der türkischen Armee und den syrischen Kurden zu einer echten Gefahr. Dieser würde versprengten und untergetauchten IS-Dschihadisten jenen Bewegungsspielraum verschaffen, der es ihnen erlauben könnte, sich neu zu gruppieren. Zugleich treibt der US-Präsident die Kurden in die Arme von Bashar al-Assad: Von ihm haben sie nämlich weniger zu befürchten als von der Türkei.“
Von Rojava bleibt nur ein Fragment
Wie es mit dem Kurdenstaat Rojava in Syrien nach dem Abzug der USA weitergehen wird, prognostiziert der Militärexperte von Nowaja Gaseta, Pawel Felgengauer:
„Die Kurden versprechen, bis zum Letzten zu kämpfen, Proteste in der Türkei und der ganzen Welt zu initiieren und die Kampfhandlungen mit Attentaten auf Polizisten und Militärs auf türkischen Boden zu tragen. Aber gegen Bomben, Artillerie und Panzer können sie nicht bestehen. Die Türken werden die YPG zurückdrängen und den Norden Rojavas besetzen. Im Süden überqueren iranische und Assad-Einheiten mit russischer Hilfe den Euphrat und nehmen die wichtigen Öl- und Gasvorkommen von Deir ez-Zor ein, von wo man schon lange die Amerikaner verdrängen wollte - und es nun von Trump geschenkt bekommt. Weder Teheran noch Moskau noch Damaskus wollen mit der YPG kämpfen. ... Deshalb wird mit den Resten Rojavas irgendein Nichtangriffspakt geschlossen. “
Die übliche Twitter-Show
US-Präsident Trump begleitet den Abzug der US-Truppen mit wortgewaltigem Getwittere. Novi list hält das für eine reine Show:
„Am Sonntag öffnet Trump der Türkei die Pforte für eine Offensive in Syrien und am Montag droht er der Türkei mit wirtschaftlicher Zerstörung wegen einer möglichen Offensive in Syrien. Es ist klar, dass Trump die Wirtschaft der Türkei nicht zerstören kann und seine Aussagen vom Montag sind zuallererst für die Amerikaner gedacht. Für seine Kritiker, aber auch seine Anhänger, von denen ebenfalls einige der Meinung sind, dass man mit dem Abzug die kurdischen US-Verbündeten in einige Probleme stürzt. Sehr schnell spielte Trump seine Einschätzung über das mögliche Ausmaß der Zerstörung der türkischen Wirtschaft wieder herunter. In einem Telefonat warnte er Erdoğan, dass die türkische Wirtschaft 'ernsthaft dezimiert' würde im Falle eines inhumanen Vorgehens in Syrien.“
Undank als Lohn für Kampf gegen den IS
Von einem Verrat an den Kurden mit unabsehbaren Folgen spricht Pravda:
„Die Kurden, die an der Niederlage der Terroristen des IS beteiligt waren, erwartet 'als Belohnung' eine türkische Invasion. ... Wenn in eine Region, in der derzeit etwa vier Millionen Menschen leben - hauptsächlich Kurden, aber auch assyrische Christen und Armenier - die Türken vordringen, wird dies eine große Migrationswelle auslösen. Eine Militäroperation destabilisiert die Region und wird zu ethnischen Säuberungen führen. Die Umsiedlung einer solchen Masse von Flüchtlingen wird nicht die billigste sein. Die geschätzten Kosten betragen 26,5 Milliarden US-Dollar. Erdoğan hofft, dass Europa den vollen Betrag zahlt. Wird die EU die Verletzung des Völkerrechts durch die Türkei absegnen oder endlich als echte Macht agieren?“
In der Angst vor Kurdistan ist man sich einig
Nicht nur Trump begeht Verrat an den Kurden, erklärt Kolumnist Giorgio Ferrari in Avvenire:
„Washington wird wegschauen, wenn Erdoğans Panzer in dieses Stück Kurdistan eindringen. Was offenkundig macht, dass hier ein Gewirr herrscht von Interessen und Rivalitäten von Mächten, die in der Nato zwar verbündet sind - wie Frankreich, die Türkei und die Vereinigten Staaten - im syrischen Puzzle aber jeweils eigene Ziele verfolgen. Und hinzu kommen noch die Ansinnen Russlands und des Iran. Letztendlich haben aber alle ein einziges, gemeinsames Ziel: die Entstehung eines unabhängigen Kurdistans zu verhindern, das von den Türken als Faktor einer tiefen Destabilisierung der Region und von vielen anderen als gefährlicher wirtschaftlicher Konkurrent dank der möglichen Kontrolle der reichen irakischen Ölfelder angesehen wird.“
Nun rächt sich Europas Feigheit
Durch den Rückzug der US-Truppen und eine türkische Offensive könnten auch gefangen genommene IS-Kämpfer frei kommen. De Telegraaf sieht eine Mitschuld bei Europa:
„Trump weist zu Recht darauf hin, dass er die Verbündeten bereits mehrere Male aufgerufen hat, 'ihre' IS-Kämpfer zurückzuholen, um sie im eigenen Land zu inhaftieren und vor Gericht zu stellen. Das ist bis auf ein paar Ausnahmen nicht geschehen. ... Europa fand es offensichtlich gut, dass die Kurden mit Unterstützung der USA die Terroristen gefangen hielten. Es hat schon eine gewisse Ironie, dass Europa auf diese Weise selbst eine Wüstenversion des so stark kritisierten amerikanischen Gefängnisses Guantánamo Bay geschaffen hat. Die Empörung sollte sich gegen die eigene gescheiterte Politik richten, die - wie so oft - durch Feigheit und Unentschlossenheit gekennzeichnet ist.“
Kein Spaziergang für die türkische Armee
Diesmal wird das türkische Unterfangen nicht ganz leicht umzusetzen sein, glaubt Liberal:
„Es gibt keine Garantie dafür, dass die türkische Armee, wie Anfang 2018 mit dem Einmarsch in das Gebiet westlich des Euphrat und der Besetzung Afrins, ihren 'Spaziergang' fortsetzen wird. Denn damals haben die Kurden im Wesentlichen beschlossen, nicht zu kämpfen. Östlich des Flusses liegt hingegen ihre Festung, und es ist sehr wahrscheinlich, dass sie diese mit Zähnen und Klauen verteidigen, selbst wenn sie allein sind - was einen langfristigen Konflikt nicht ausschließt.“