Frankreich will EU-Beitritte bremsen
Im Streit um die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit weiteren Staaten ist durchgesickert, wie sich Macron den EU-Erweiterungsprozess vorstellt: An die Stelle formeller Verhandlungen soll eine schrittweise Anbindung in einzelnen Bereichen treten, wenn die Kandidaten bestimmte Reformvorgaben erfüllen. Diese Prozesse sollen umkehrbar sein. Nötige Reform oder unfaire Änderung der Spielregeln?
Macron widersetzt sich allen Dogmen
Die Haltung Macrons gegenüber der EU erinnert Jean Quatremer, Brüssel-Korrespondent von Libération, an einen historischen Reformator:
„Europa ist eine Religion. Als solche hat es seine Dogmen und seine Priester. Wer von seinem Kanon abweicht, läuft Gefahr, der Blasphemie oder gar der Häresie beschuldigt und exkommuniziert zu werden. … [Frankreich] möchte, dass die Beitrittsverhandlungen nicht mehr 'kapitelweise' erfolgen, sondern anhand von thematischen Schwerpunkten, um dem Kandidaten zu erlauben, an sektoralen Politiken sowie an Ad-hoc-Finanzierungen einschließlich Strukturfonds teilzunehmen: So könnte er schrittweise in die Funktionsweise der Union integriert und seine Fähigkeit, den ihm auferlegten Pflichten nachzukommen, getestet werden. … Paris will zudem, dass der Prozess reversibel ist, sollte ein Staat seine Verpflichtungen nicht einhalten. Wird Macron zum Luther der europäischen Integration?“
Änderung der Regeln wäre unfair
Jetzt über eine Reform des Erweiterungsprozesses zu sprechen hält Der Tagesspiegel für keine gute Idee:
„Die beiden EU-Beitrittskandidaten Albanien und Nordmazedonien müssen befürchten, dass der Start von Beitrittsgesprächen sich so lange verzögert, bis in der EU Einigkeit über eine Reform des Erweiterungsprozesses herrscht. Allerdings wäre es gegenüber Skopje und Tirana unfair, gewissermaßen während des Spiels die Regeln zu ändern. Wer ein Abdriften beider Länder Richtung Russland oder China verhindern will, sollte den Start von Beitrittsverhandlungen befürworten. Über eine Reform des Erweiterungsprozesses sprechen kann man dann immer noch.“
Berlin und Paris mal wieder uneins
Efimerida ton Syntakton analysiert die unterschiedlichen europapolitischen Strategien von Berlin und Paris:
„Das vereinigte Deutschland wollte nach 1990 eine Fast-Track-Expansion nach Mittel- und Osteuropa, einer traditionell deutsch geprägten Region. Im Gegensatz dazu sah Frankreich in der Osterweiterung ein Ungleichgewicht. ... Als es um die Frage der Zusammensetzung der Eurozone ging, drehten sich die Haltungen Deutschlands und Frankreichs zur EU-Erweiterung nach Osten in ihr Gegenteil. Berlin wollte die in Maastricht vereinbarten Kriterien strikt einhalten, eine Position, die den Süden ausschloss, auch Italien. Paris wollte von Anfang an eine politische Entscheidung, so dass der Süden Teil der Eurozone sein konnte, eine Entscheidung, die eine flexible Auslegung von Maastricht und des Stabilitätspakts erforderte.“