SPD-Spitze: Erneuerung nach links?
Die SPD-Basis hat sich in einem Mitgliedervotum für eine neue Parteiführung entschieden: Überraschend setzten sich Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans gegen Vizekanzler Olaf Scholz und Klara Geywitz durch. Die beiden Neuen wollen die angeschlagene Volkspartei auf einen linkeren Kurs führen. Dass dabei auch die Koalition mit CDU und CSU zerbrechen könnte, bewegt die Kommentatoren.
Europa wird profitieren
Dass die Groko in Deutschland bald Geschichte sein könnte, freut Público angesichts der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020:
„Wir könnten genau zur richtigen Zeit eine grüne deutsche Ratspräsidentschaft bekommen, nämlich zu Zeiten, in denen ein europäischer Plan zur Bekämpfung des Klimawandels diskutiert wird, der auch als Wiederbelebung für die kontinentale Wirtschaft dienen könnte. Wenn die Grünen eine Koalitionsregierung mit den Linken eingehen würden, könnte der europäische Green Deal zu einem wahren Green New Deal werden. Das hieße, zu seiner ökologischen Säule eine echte soziale Säule hinzufügen, wie in Roosevelts New Deal der 1930er Jahre.“
SPD und CDU nicht bereit für Neuwahlen
Das vorzeitige Ende der Großen Koalition hält Sega für höchst unwahrscheinlich:
„In der regierenden Koalition in Deutschland gibt es schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten. Innerhalb der CDU/CSU und bei den Sozialdemokraten brodelt es und die Zusammenarbeit zwischen den Parteien leidet darunter. … Trotz der Führungswechsel in CDU und SPD, trotz der heftigen Aussagen aus beiden Parteilagern, die darauf hindeuten sollen, dass man nicht mehr miteinander regieren könne, wird es jedoch vorerst keine radikalen Veränderungen geben. Sowohl die SPD als auch die CDU versuchen, ihre unzufriedene Wählerschaft mit immer radikaleren Botschaften zu besänftigen. Gleichzeitig wissen sie genau, dass sie weder bereit sind für Neuwahlen noch für eine Minderheitsregierung.“
Das Proletariat spielt heute keine Rolle mehr
Gazeta Wyborcza sieht das Ende der Sozialdemokratie in Deutschland gekommen:
„Die Unterstützung ist auf unter 15 Prozent gefallen. Dies ist zum Teil auf Veränderungen in der deutschen Gesellschaft zurückzuführen, denn seit dem Entstehen der Partei vor 150 Jahren kamen die SPD-Wähler aus dem unterdrückten Proletariat. Doch heute spielt das Proletariat in Deutschland keine solche politische Rolle mehr. Moderne Stadtbewohner mit progressiven Ansichten, die einst die Sozialdemokratie unterstützten, haben für die Grünen gestimmt, und die unzufriedenen Provinzbewohner haben ihre Unterstützung auf die rechtsextreme Alternative für Deutschland verlagert.“
Sozialdemokraten geben sich eine Chance
Der Freitag traut der neuen Führung zu, für einen Neustart zu sorgen:
„Die Chance dazu bieten zwei Vorsitzende, die völlig unverdächtig sind, den alten Führungscliquen anzugehören, die sich mit Ideen für eine progressive Digitalisierung (Esken) und dem entschlossenen Kampf gegen Steuerhinterziehung (Walter-Borjans) empfohlen haben. ... Die Beharrungskräfte derer, die keine neue SPD wollen, sind groß und speisen sich daraus, die Partei jahrelang ungehindert an den Abgrund geführt zu haben. In ihrer Hand liegt es, nun Spaltung, Verwerfungen und Unversöhnlichkeiten zu vermeiden. Ob den Anhängern Olaf Scholz' diese Größe zuzutrauen ist?“
So treibt man Wähler in die Arme der AfD
Der neue Linkskurs der einstigen Partei von Helmut Schmidt und Gerhard Schröder muss besorgt machen, beklagt Echo24:
„Die Sozialdemokratisierung der CDU hat offenkundig nicht genügt: Die SPD, die einmal eine Massenpartei war und jetzt bei 15 Prozent herumdümpelt, bereitet sich innerlich auf eine harte linke Koalition vor, mit den Grünen und den Nachfolgern Honeckers. Wähler, die das nicht wollen, werden den sogenannten Rechtspopulisten nachlaufen. Das wiederum wird Kämpfer gegen Populismus und Faschismus wecken, und eine neue Runde von Kulturkriegen wird beginnen. In Deutschland könnte dies alles auf eine Zusammenarbeit von CDU und AfD hinaus laufen, die heute noch unvorstellbar erscheint. Aber vielleicht wäre sie - bei allen Vorbehalten gegenüber den Nationalen in der AfD - der letzte Ausweg für eine vernünftige Politik in Berlin und in der EU.“
Gunst der Stunde innerhalb der Koalition nutzen
Ob die Wahl von Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken an die SPD-Spitze das Ende der Großen Koalition in Deutschland bedeutet, fragt sich Der Standard:
„Vermutlich nicht, denn das käme für beide Koalitionsparteien einem politischen Amoklauf gleich. Die Union befindet sich derzeit mit der Diskussion um Spitzenkandidatin Annegret Kramp-Karrenbauer in einer ähnlich strukturellen Krise wie der Juniorpartner. Von einer vorgezogenen Wahl würden links vor allem die Grünen und die Linken und rechts massiv die neu aufgestellte AfD profitieren. Die SPD wäre besser beraten, die Schwäche der Union für sozialpolitische Kompromisse à la Grundrente zu nutzen. Der Zeitpunkt ist günstig, Neuwahlen hingegen wären angesichts des Vormarschs der Rechten fahrlässig.“
Profiteure eines Groko-Endes wären die Grünen
Sollte die neugewählte SPD-Spitze wirklich die Große Koalition aufkündigen, würden die Sozialdemokraten in der Wählergunst noch weiter sinken, glaubt Večernji list:
„Sollte die GroKo zerfallen, drohen Deutschland eine Regierungskrise und wahrscheinlich vorgezogene Neuwahlen kommendes Jahr, obwohl man auch die Möglichkeit einer politischen Neuordnung und eine Hinwendung der CDU zu den Grünen nicht ausschließen sollte, was die SPD zusätzlich marginalisieren würde. Die Grünen haben die SPD schon vom Platz der zweitpopulärsten Partei im Land verdrängt und das Verlassen der GroKo könnte, neben den zu erwarteten innerparteilichen Querelen, zu einem zusätzlichen Verlust der Wählergunst für die SPD führen, die sowieso auf einem historischen Tiefpunkt ist. Von solch einem Szenario würden die Grünen am meisten profitieren.“
Linksrutsch als Rettungsanker
Mit etwas Geduld könnte sich der eingeschlagene Kurs für die SPD lohnen, erklärt die Neue Zürcher Zeitung:
„Langfristig könnte sich der Kurswechsel aber, so die Hoffnung des linken Parteiflügels, als Rettungsanker für die SPD erweisen. Zunächst könnte die SPD mit einem wirtschaftsfeindlichen Linksrutsch darauf hoffen, von den Grünen wieder Stimmen zurückzuerobern. Damit wächst zwar das linke Lager noch nicht gesamthaft, aber für eine Traditionspartei im Überlebenskampf ist das schon etwas. Wenn es Walter-Borjans und Esken darüber hinaus gelingt, die an die AfD verloren gegangene Klientel von Niedriglohnarbeitern, Langzeitarbeitslosen und Entfremdeten anzusprechen, dann könnte Rot-Rot-Grün wohl zulegen. Allerdings bleibt auch mit diesen Manövern fraglich, wie sich die künftige SPD von den Grünen und der Linkspartei differenziert.“