Proteste in den USA: Wie tief liegt der Rassismus?
Die Proteste nach der Tötung des schwarzen US-Amerikaners George Floyd durch einen weißen Polizisten halten weiter an – zumeist friedlich, teils begleitet von Sachbeschädigungen und Plünderungen. Das Militär verlegte als Reaktion 1600 Soldaten in die Nähe von Washington. Europäische Medien untersuchen die strukturellen Gründe für den Rassismus, gegen den sich die Wut der Protestierenden richtet.
Uraltes Überlegenheitsgefühl
Es bedarf einer geistigen Revolution, um den Rassismus in der US-amerikanischen Gesellschaft zu überwinden, analysiert Politologe Sami Naïr in El País:
„Er basiert auf der Entstehungsgeschichte eines Landes, das auf dem Völkermord an den amerindischen Volksgruppen durch europäische Eroberer und, anschließend, auf dem Menschenhandel mit aus Afrika importierten Sklaven fußt. Die Erinnerung an diese ethnischen und kulturellen Gegensätze während der Gründung sitzen in allen Teilen des nordamerikanischen Gesellschaftssystems, in den Institutionen wie im täglichen Leben. ... Es ist eine Gesellschaft, die aus Sicht der Weißen von den Weißen für Weiße gemacht ist. Diese Sichtweise zu ändern, bedarf einer mentalen Revolution.“
Rassismus als Klassenkampf
Die USA sind ein gespaltenes Land, seit der Pandemie noch mehr als zuvor, analysiert Politologin Nadia Urbinati in La Repubblica:
„Armut und Arbeitslosigkeit sind so hoch wie seit der Weltwirtschaftskrise 1929 nicht mehr. Dieses geteilte Amerika nährt den Virus des Rassismus. Es trägt das Gewand der weißen Rassenüberlegenheit - ein Gewirr von Ideologien, ausgelöst von der Wut über den Verfall der Würde der Arbeit. … Weiße, die ihren Arbeitsplatz verlieren, fühlen sich misshandelt, Opfer einer Ungerechtigkeit, für die sie jahrzehntelange Subventionen verantwortlich machen, die, so die Ideologie, Afroamerikanern und anderen ethnischen Minderheiten die Arbeit erleichtert und Weiße bestraft haben. … Diese Propaganda ist traditionell das Sicherheitsventil gegen eine auf Klassen fokussierte Lesart von Krise und Armut.“
Auch Obama hatte keine Lösungen parat
Als es 2015 nach dem Tod des Schwarzen Freddie Gray im Zuge einer Festnahme ebenfalls zu US-weiten Protesten kam, fand auch der erste schwarze Präsident des Landes keine überzeugende Reaktion, ruft Milliyet in Erinnerung:
„Bei Grays Tod im Jahr 2015 wurde erstmals in einem solchen Fall ein Verfahren gegen die Polizei eingeleitet. Dies brachte man damit in Verbindung, dass Barack Obama damals Präsident war. Natürlich ist das politische Klima wichtig. ... Allerdings sind die Dinge nicht ganz so, wie sie scheinen. Nach Grays Tod sagten viele, dass Obama sich als Kokosnuss entpuppt habe: außen schwarz, innen weiß. Dass er die Demonstranten 'Plünderer' nannte und versuchte, ausgewogen zu reagieren, sorgte bei Schwarzen für große Enttäuschung. Die US-Medien, angeführt vom Pro-Obama-Sender CNN, wurden zum 24-Stunden-Propagandazentrum der Polizei.“
Mit dem Finger auf die USA zu zeigen ist leicht
Auch in Europa müssen Weiße gegen Rassismus aktiv werden, fordert der Falter:
„Wir können nicht nachvollziehen, wie es ist, wenn man aufgrund seiner Hautfarbe in Lebensgefahr ist. ... Es ist leicht, jetzt mit dem Finger auf die USA zu zeigen. Auch in Österreich gibt es eine Geschichte von Polizeigewalt und Racial Profiling. ... Auch in Österreich machen sich Mütter und Väter Sorgen um ihre schwarzen Kinder, führen mit ihnen Gespräche darüber, wie sie sich in der Öffentlichkeit verhalten sollen, wie sie reagieren sollen, wenn sie von der Polizei angehalten werden. ...'In a racist society, it is not enough to be non-racist, we must be antiracist', sagt die US-Bürgerrechtlerin Angela Davis. Konkret bedeutet das: seine weißen Privilegien nutzen, um bei Rassismus einzuschreiten. Organisationen und Aktionen von schwarzen Personen unterstützen und sich ... weiterbilden.“
Strukturellen Rassismus endlich bekämpfen
Weiße Amerikaner müssen endlich einsehen, dass es bei der Polizei ein ernstes Problem gibt, fordert NRC Handelsblad:
„In der Trump-Ära ist es umso wichtiger, dass diese Debatte geführt wird. Die 'Black Lives Matter'-Bewegung, 2013 entstanden, hat eine entscheidende Rolle beim Sichtbarmachen von strukturellem Rassismus gespielt. Aus dieser Bewegung kamen Führer und Intellektuelle, die die Debatte am Laufen halten. Weil Bürger Übergriffe filmen, kommen gewalttätige Polizisten weniger leicht davon. Der Kampf gegen den strukturellen Rassismus beginnt beim Sichtbarmachen. Weiße Amerikaner, die viel weniger mit der Polizei in Kontakt kommen, können so nicht länger leugnen, dass etwas grundlegend falsch ist. “
Wirkungslos gegen tief verwurzelte Ungleichheiten
Die Ursachen für die aktuelle Situation können nicht allein der Regierung Trump angelastet werden, meint Dnevnik:
„Mindestens drei solcher Massenproteste, die ebenfalls gewaltsam eskalierten, fanden während der Zeit des ersten schwarzen Präsidenten Barack Obama statt. Die tiefer liegenden Ursachen erlauben keine schnellen Lösungen. ... In gewisser Weise ähnelt das Ergebnis der afroamerikanischen Proteste leider dem der erfolglosen Proteste nach jedem Amoklauf in den USA. Auf die Forderungen der Straße folgen immer politische Versprechen, die dann schnell vergessen werden. Und das, obwohl diese Versprechen viel einfacher zu erfüllen wären als die Abschaffung von Rassismus und rassistisch motivierten Ungerechtigkeiten.“
Bye bye, American Dream
Die Polizeigewalt gegen Schwarze ist der Auslöser, nicht aber der eigentliche Grund für die Ausschreitungen, schreibt 24 Chasa:
„Die soziale Ungleichheit in den USA ist heute größer als 1933, als es ähnliche soziale Revolten gab, wenn auch mit anderen ideologischen Losungen. Damals kam Franklin Roosevelt mit seinem 'New Deal' an die Macht. Es begann die Epoche des American Dream. 1933 gehörten den reichsten zehn Prozent der Bevölkerung 47 Prozent des nationalen Wohlstands. 1970 waren es nur noch 34 Prozent. Das waren die goldenen Zeiten des Amerikanischen Traums. … Heute gehören den Reichen 50 Prozent aller Vermögen. Der Unterschied zu 1933 ist, dass die Klasse der Ideologen es diesmal geschafft hat, den Unmut über die soziale Ungleichheit in Rassenhass zu verwandeln.“
Fortschritte nicht außer Acht lassen
Angesichts der gewaltsamen Proteste darf nicht vergessen gehen, dass sich die Lebenssituation der Afroamerikaner in den USA heute ungleich besser darstellt als früher, erinnert Financial Times:
„Die institutionalisierte Rassentrennung in den US-Südstaaten ist heute nur noch eine beschämende Erinnerung. Im Jahr 1968 schlossen nur 54 Prozent der schwarzen US-Amerikaner die High School ab, heute sind es über 90 Prozent. Die Armutsquote der Afroamerikaner, die im Jahr der Ermordung Martin Luther Kings bei fast 35 Prozent lag, betrug 2016, als Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde, 22 Prozent. Seitdem ist sie noch weiter gesunken, obwohl die Corona-Rezession einige dieser positiven Entwicklungen umkehren könnte.“
Nicht mal eine Floskel aus Brüssel
Das selektive Schweigen der EU zu den Aufständen kritisiert Eric Bonse auf seinem Blog Lost in EUrope:
„Wenn es irgendwo in der Welt Unruhen gibt und der Staat mit Gewalt reagiert, dann haben die EU-Diplomaten eine Standard-Reaktion parat: Sie fordern zu Zurückhaltung und Mäßigung auf. Doch im Fall der USA kommt nicht einmal das. ... Trump stachelt die Gewalt an und sät Hass. Auch mit Fake News und Desinformation gießt er Öl ins Feuer. Doch dazu ist der EU noch nie etwas eingefallen. Fake News kommen immer aus Russland, Desinformation aus China. Würden die Unruhen sich dort abspielen, hätten wir gewiss schon eine EU-Reaktion.“