Was Moskau dem Siegestag noch abgetrotzt hat
Mit der bislang größten Militärparade hat Russland am Wochenende den Sieg der Sowjetunion über Nazi-Deutschland vor 75 Jahren gefeiert – wegen der Pandemie einige Wochen später als geplant und ohne viele der ursprünglich erhofften Gäste. Trotz der in Russland nach wie vor kritischen Corona-Situation zogen rund 13.000 Soldaten ohne Masken über den Roten Platz. Was hat das Spektakel Russland gebracht?
Eitel Sonnenschein bis auf die Chinesen
Sarkastisch als echten Erfolg feiert die Parade Kommentator Anton Orech auf Echo Moskwy:
„Tja, keine wichtigen Staatsvertreter waren zu unserer Parade angereist - aber wen brauchen wir denn? Putin war ja auf dem Roten Platz, das ist das Wichtigste. Das Virus hatte ein bisschen Auslauf und auch sonst war alles bestens: Das Wetter sowieso und die Flugzeuge flogen in diesem Jahr sogar zweimal über die Hauptstadt, einmal im Mai und jetzt wieder. … Wer nach der Parade erkrankt, wird halt behandelt. Wer stirbt, Gott bewahre ... naja, das müssen wir doch alle mal. Aber dafür: wie viel Freude und Patriotismus! Ich habe alles in allem nur ein Manko entdeckt: Die Chinesen. Haltung und Zackigkeit unserer Soldaten erschienen mustergültig - bis zu dem Moment, wo die Kollegen aus China an ihnen vorbeimarschierten.“
Eine Show für den Rivalen USA
Die alljährliche Siegesparade in Moskau soll auch die militärische Stärke Russlands demonstrieren, meint Večernji list:
„Ungeachtet dessen, dass die russische Wirtschaft unter ernsthaften Problemen leidet, bleibt Russland unter Putin eine respektable Militärmacht, die als einzige versucht, den USA zu parieren und die, wenn man Putin glauben kann, den USA auch einen Schritt voraus ist, was einen neuen Typ strategischer Nuklearwaffen anbelangt. Russland bleibt eine globale Nuklearmacht - womit ein erneutes Wettrüsten befeuert wird. Die USA sieht in der Entwicklung neuer Atomwaffen ein Bruch des Vertrags zur Kontrolle der Atomwaffen aus dem Kalten Krieg, während Moskau entgegnet, dass seine Waffen nur für diejenigen eine Bedrohung darstellen, die Russland angreifen wollen.“
So wird Geschichte zum Gefängnis
Putins Verdrehungen geschichtlicher Fakten sind sehr ernst zu nehmen, warnt Zeit Online:
„Nicht nur, weil Putin aus Geschichte aktuelle Politik destilliert. Sondern weil seine Ansichten womöglich bald Verfassungsrang bekommen. Hier verbinden sich Parade, Geschichte und Konstitution zur Machtfrage. Das neue russische Grundgesetz hat einen Artikel, der die Russische Föderation verpflichtet, 'die Verteidigung der historischen Wahrheit zu gewährleisten'. Wie man auf den Zweiten Weltkrieg schaut, ist also nicht Sache der freien Forschung und der gesellschaftlichen Diskussion, sondern einer regierungsamtlichen Anordnung. Geschichte als Staatsangelegenheit. … Was hier passiert, ist weniger ein Zukunftsentwurf als ein Beispiel, wie Geschichte zum Gefängnis werden kann.“