Wie bedeutend ist der türkische Erdgasfund?
Der türkische Präsident Erdoğan hat am Freitag die Entdeckung von 320 Milliarden Kubikmetern Gas im Schwarzen Meer bekannt gegeben. Der Kurs der Lira, der vor der Ansprache angezogen hatte, war danach wieder gefallen - wohl weil die Gasmenge deutlich geringer ist, als zuvor gestreut wurde. Kommentatoren analysieren die Skepsis bei Kritikern und Bevölkerung.
Erdoğans Kritiker sind nichts als Miesepeter
Die kritischen Stimmen unter türkischen Experten und der Bevölkerung wollen diesen Fund aus Missgunst schlechtreden, schimpft Akşam:
„Ihre Absicht ist es, diese frohe Botschaft zu beschmutzen! Deshalb legen sie sich so ins Zeug. Dies ist ein Fund, der die Türkei energietechnisch in die Unabhängigkeit führen wird. Zugleich ist es der erste große Erfolg und ein sehr wichtiger Schritt. Hinzu kommt, dass dieser Schritt zu einer Zeit kommt, in der die riesigen Energieunternehmen ihre Sondierungsaktivitäten in den Meeren aufgrund der Pandemie eingestellt hatten. Wir werden jetzt eine globale Macht im Energiesektor. Offensichtlich ist es das, was sie so stört.“
Die Menschen in der Türkei haben andere Sorgen
Die Bevölkerung lässt sich von der Regierungs-Euphorie nicht so leicht anstecken, analysiert Artı Gerçek:
„Der Fund stößt bei den Bürgern auf wenig Interesse, zumal noch unklar ist, wann die Förderung beginnt und ob diese schließlich irgendeinen Nutzen für sie hat. Sie sind damit beschäftigt, über die Runden zu kommen, und kämpfen - nicht zuletzt wegen der Corona-Pandemie - mit wachsenden Sorgen. Deshalb haben sie kein Gehör für solche voller Pomp präsentierten Mitteilungen. Sie wissen sehr genau, dass dahinter politische Absichten stecken. Aus diesem Grund hat die Regierung nicht bekommen, was sie sich davon erhoffte.“
Unrealistischer Weltrekord
Die von der türkischen Regierung verbreiteten Neuigkeiten werfen bei Phileleftheros Fragen auf:
„Wie ist es möglich, eine Bohrung in einer Tiefe von 2.500 Metern in 30 Tagen durchzuführen? Die Bohrungen begannen am 20. Juli und die Ankündigung einer großen Lagerstätte erfolgte am 21. August. ... Da für solche Befunde mindestens sieben Tage lang zusätzliche Vor-Ort-Untersuchungen erforderlich sind, muss [das Bohrschiff] Fatih einen Weltrekord in Sachen Bohrgeschwindigkeit aufgestellt haben. Bei den Bohrungen im Mittelmeer (den illegalen Bohrungen innerhalb der zyprischen AWZ), dauerte es mit demselben Bohrer, derselben Besatzung und ähnlichen Dimensionen 70 bis 90 Tage, bis die Bohrungen abgeschlossen waren. Wie gelang das nun in 20 bis 25 Tagen?“
Vielleicht ist noch viel mehr da
Die Energiepolitik in der Region könnte sich drastisch verändern, kommentiert Hürriyet Daily News:
„Die Entdeckung von Erdgas im Schwarzen Meer könnte zu neuen ambitionierten Plänen der Türkei führen, weitere Reserven in derselben Region zu finden, um internationale Unternehmen für Investitionen anzulocken. Es wird die oberste Priorität bleiben, den inländischen Bedürfnissen des Landes zu dienen, doch es existiert das Potential, dass die Türkei zu einem neuen Versorger werden könnte, insbesondere für die europäischen Märkte. Diese Einschätzungen mögen unreif klingen angesichts der Tatsache, dass wir sehr wenig über die Reserven wissen. Doch dies erlaubt uns, über potentielle Auswirkungen auf die regionale Energiepolitik nachzudenken.“
Mehr Spielraum für Ankara
Der Türkei-Korrespondent des Handelsblatts, Ozan Demircan, macht auf die geopolitische Bedeutung des Funds aufmerksam:
„Die Türkei macht sich für einige Jahre unabhängig von teurem russischem Gas. Und das ist in einer Zeit, in der Moskau und Ankara um geopolitischen Einfluss konkurrieren, eine wichtige Nachricht. Egal, ob es um Syrien, Libyen oder um die Produktion und den Export von Waffen geht. Der Gasfund verschafft Ankara in den Verhandlungen mit Moskau mehr Spielraum. Umgekehrt könnte der Gasfund die Nato-Partner USA und Türkei nach zahlreichen Konflikten wieder ein Stück weit näher zusammenbringen. Im Mittelmeer, wo die Türkei gegen den Willen Griechenlands und der EU ebenfalls nach Gas sucht, könnte Ankara einen neuen Verbündeten gefunden haben. Für die EU bedeutet das: Die Türkei hat sich eine bessere Verhandlungsposition gesichert.“
Bisher nur heiße Luft
Daran, dass die Ankündigungen Ankaras zum Gasfeld noch längst nichts darüber aussagen, wie hoch der Ertrag sein wird, erinnert der Energieexperte Alexander Frolow in Iswestija:
„Die genannte Menge kann man als vorläufige Angabe betrachten, sie wird unweigerlich noch präzisiert. Auch ist unklar, ob es um die förderbaren Mengen geht, also um jenes Gas, dass man nicht nur rein technisch fördern kann, sondern auch wirtschaftlich lohnend. Eine Sache ist, wieviel Gas in einem Gasfeld liegt, eine ganz andere, wieviel man herausholen kann, wenn man nicht auf die Kosten schaut. Und eine dritte, wieviel Gas man fördern kann, ohne dabei bankrott zu gehen. Noch ist der Weg bis zu einer Investitionsentscheidung unabsehbar weit. Das von der türkischen Regierung verkündete Vorhaben, das Schwarzmeergas schon 2023 an das Volk auszuliefern, ist ebenso unrealistisch wie schwammig.“