Brexit: EU reicht London die Hand
EU-Chefunterhändler Michel Barnier hat in einem Tweet am Montag mitgeteilt, die EU sei bereit, die Freihandelsgespräche mit London zu intensivieren, und zwar "zu allen Themen und basierend auf Vertragstexten“. Damit werden die Verhandlungen wohl fortgesetzt, nachdem die Zeichen zwischenzeitlich auf Abbruch gestanden hatten. Aber reicht es auch für eine unterschriftsreife Einigung bis Ende des Jahres?
Fische gegen Subventionen
The Daily Telegraph skizziert ein für beide Seiten akzeptables Abkommen:
„Der immer noch wahrscheinliche Kompromiss sieht so aus: Das Vereinigte Königreich wird der EU im Bereich Fischerei gewisse Rechte zugestehen. Diese werden jedoch nicht an jene heranreichen, die die EU-Staaten derzeit genießen. Im Bereich staatliche Beihilfen [durch London an britische Unternehmen] wird es einen Mechanismus zur Streitbeilegung durch eine unabhängige Institution geben - wobei im Falle von Verstößen ein zuvor vereinbarter Prozess in Kraft tritt, der einen verringerten Zugang zum Markt zur Folge hat. All das entspricht nicht den derzeitigen Verhandlungspositionen des Vereinigten Königreichs und der EU. Doch dieser Kompromiss bietet beiden Seiten genug, um behaupten zu können, sie hätten die jeweils andere Seite zum Nachgeben gebracht.“
Kooperation auch für Brüssel der bessere Weg
Ein Abkommen muss einfach her, fordert der Europaabgeordnete Iuliu Winkler (EVP) in einem Gastbeitrag auf Spotmedia:
„Der erste [von einem No-Deal-Brexit] betroffene Bereich wären die Lebensmittel. Es würde zu Teuerungen auf beiden Märkten kommen und ganz sicher müssten sich bestimmte Exporteure auf die Möglichkeit gefasst machen, dass ihre Produkte aufgrund höherer Preise nicht mehr wettbewerbsfähig sind. ... Es wäre besser, wenn ein Wunder passiert und in den nächsten Wochen doch noch ein Abkommen zustande kommt - und sei es auch nicht perfekt -, das eine Partnerschaft zwischen der EU, ihren Mitgliedsländern und dem Vereinigten Königreich gewährleistet. Unsere gemeinsame Geschichte und Wirtschaft, der gemeinsame Handels- und Finanzbereich, unsere sozialen und kulturellen Verbindungen sind insgesamt Argumente für eine zukünftige Kooperation, nicht für Rivalität.“
Kühle Köpfe behalten hoffentlich die Oberhand
Das Vereinigte Königreich sollte die ausgestreckte Hand der EU ergreifen, empfiehlt der London-Korrespondent des Handelsblatts, Carsten Volkery:
„Die Zeit des Ausreizens ist vorbei, jetzt muss es darum gehen, gemeinsam ein Handelsabkommen zu beschließen. Nach Einschätzung beider Seiten bleiben nur wenige Wochen, bis ein unterschriftsreifer Text vorliegen muss. Da kann es schnell passieren, dass man bei mangelnder Konzentration am Ende ohne Deal dasteht - ein Ergebnis, das beide vermeiden möchten. Leider geben in der Downing Street einige Veteranen der 'Vote Leave'-Kampagne den Ton an, die nur allzu gern den Streit mit der EU suchen. Dieser Instinkt ist bestens geeignet, um Volksabstimmungen zu gewinnen. In Freihandelsgesprächen hingegen ist Diplomatie gefragt.“
Keinen versehentlichen No Deal riskieren
Auch die Europäer tragen Verantwortung für die sich gefährlich hinziehenden Verhandlungen, betont Eric Albert, Großbritannien-Korrespondent von Le Monde:
„Sie weigern sich, den Briten die gleichen Zugangsbedingungen zum EU-Binnenmarkt zu gewähren wie den Kanadiern. Mit welchem Argument? Offiziell ist die Situation anders, da Großbritannien eine viel nähere und größere Wirtschaft ist. Das stimmt, aber das Argument ist etwas schwach. ... Gelingt es nicht, eine Einigung zu erreichen, werden [die Fischer aus der EU] den Zugang zur britischen Fangzone völlig verlieren. Auf Zeit spielen wie es beide Lager tun, ist eine traditionelle Verhandlungstaktik. Ist es das mitten in der Pandemie, wo das Wesentliche bereits entschieden ist, jedoch wirklich wert? Es wäre bedauerlich, würden ein falsches Wort oder unerwartete Umstände versehentlich einen No Deal verursachen.“