Was von den Nürnberger Prozessen bleibt
Vor 75 Jahren, am 20. November 1945, begann der Prozess gegen 24 hochrangige Vertreter des nationalsozialistischen Regimes. Darunter waren Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß und Luftfahrtminister Hermann Göring. Die Nürnberger Prozesse waren das erste internationale Strafverfahren der Geschichte und gelten als Vorläufer des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. Was ist von ihrem Geist geblieben?
Jetzt gilt wieder das Recht des Stärkeren
Vom Geist der Nürnberger Prozesse ist derzeit wenig zu spüren, klagt die Neue Zürcher Zeitung:
„Die Beispiele Nürnberg und das Jugoslawien-Tribunal zeigen: Eine Justiz mit universellem Anspruch hat dann eine Chance zu gedeihen, wenn entweder ein Konsens zwischen Grossmächten existiert, wie unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, oder wenn ein Hegemon, wie die USA nach 1989, die Welt für eine Weile dominiert. 75 Jahre nach Nürnberg ist das nicht mehr der Fall. ... Das 'amerikanische Zeitalter' ist vorbei. ... 75 Jahre nach dem Aufbruch in Nürnberg schliesst sich zum zweiten Mal ein Zeitfenster, in welchem Recht und Macht sich auf Augenhöhe begegneten. Wir bewegen uns wieder auf eine jener 'Normalphasen' der Geschichte zu, in denen im Verhältnis zwischen den Völkern im Zweifelsfall gilt: Macht bricht Recht.“
Rückkehr der Kleingeister
Die Zeugen von Nürnberg müssen sich im Grabe umdrehen, meint auch Irish Examiner:
„Die rückschrittlichen Instinkte von Viktor Orbán und Mateusz Morawiecki würden jene Generation abstoßen, die Nürnberg durchstand. Und es ist leicht vorstellbar, wie diese den Brexit und den immer unglaubwürdigeren britischen Premier Boris Johnson und dessen lächerliches Kabinett beurteilen würde. Diese Politiker sind zur Antithese ihrer gemäßigten, wenn auch nicht immer fehlerfreien Vorgänger geworden. Ihr kleingeistiges Stammesdenken ist ein Affront gegen jene, die das heutige Europa aufgebaut haben. ... Die Nürnberger Generation, wenn man sie so nennen kann, war entschlossen, einen dauerhaften Frieden aufzubauen. Dass ihr das insbesondere im Nachkriegsdeutschland gelungen ist, sollte nicht als selbstverständlich oder als immerwährende Realität angesehen werden.“
Der Funke ist nicht übergesprungen
Die Nürnberger Prozesse haben Fragen aufgeworfen, die die Diskussionen über das Völkerrecht bis heute prägen, erklärt Mérce:
„Welcher Krieg gilt als Eroberungskrieg? Gilt der Begriff 'Genozid' auch für die Verfolgung politischer Gruppen? ... Wie könnte man den Begriff 'Verbrechen gegen die Menschlichkeit' anwenden, wenn die Staaten dieses Verbrechen gegen ihre eigenen Bürger verüben, sogar zu Friedenszeiten? Aus heutiger Sicht gab es nach 1945 einen kurzen Moment des Konsens. Es gab ein internationales Einvernehmen darüber, dass in der Zukunft die Rechtsprinzipien über der Souveränität der autoritär Herrschenden stehen sollten, um die Menschenrechte universell durchzusetzen. Die Nürnberger Prozesse waren jedoch nicht geeignet, diese Umstrukturierung der Weltordnung zu katalysieren.“
Lukaschenka sollte die Lehren spüren
Wirtschaftsprofessor Konstantin Sonin fordert in Echo Moskwy ein ähnliches Tribunal gegen den belarusischen Diktator Lukaschenka:
„Man muss jetzt nicht darauf verweisen, dass die Verbrechen von Himmler, Heydrich, Kaltenbrunner, Müller und anderen Nazi-Führern tausendmal größer und schlimmer waren als die in Belarus 2020. Natürlich ist das Hitler-Regime mit nichts in der Menschheitsgeschichte vergleichbar. Aber Nürnberg brauchte es nicht nur, um die übrig gebliebenen Finsterlinge aufzuknüpfen, sondern auch, um Lehren für weniger schlimme Fälle zu ziehen. Dass Lukaschenka und seine Leute 'nur' ein paar Menschen getötet, 'nur' Hunderte verprügelt, 'nur' ein paar Tausend im Gefängnis halten und 'nur' Zehntausende verhaftet haben, sollte nicht davon abhalten, die Lehren von Nürnberg auf diesen Fall anzuwenden.“