Führt Biden die USA wieder zusammen?
In seiner Rede zum Amtsantritt hat Joe Biden versprochen, "ein Präsident für alle Amerikaner" sein zu wollen. Er rief zur Einheit auf und mahnte die Menschen, einander zuzuhören. Viele Beobachter schöpfen angesichts der Zeremonie in Washington Hoffnung, dass es der neuen Regierung gelingen könnte, das Land wieder zusammenzubringen. Andere sind deutlich weniger optimistisch.
Selbst das Versprechen bedeutet viel
Respektvoller Umgang mit Andersdenkenden ist eine Essenz der Demokratie, meint Népszava:
„In einer intakten Demokratie können auch diejenigen ihr Recht und ihre Hoffnung finden, die nicht für den Gewinner gestimmt haben. Darum geht es beim Versprechen von Biden, dass er nicht nur der Präsident seiner Anhänger, sondern der Präsident aller sein wird. ... Okay, einstweilen ist das nur ein Versprechen, aber zum Vergleich: Die ungarische Regierung hat den Kommunen, in denen die Oppositionsparteien [die Kommunalwahlen] gewonnen haben, regelrecht den Krieg erklärt. ... Die Trump-Anhänger brauchen jetzt eine Bestätigung, dass auch sie anständige Menschen sind, und die meisten von ihnen sind es tatsächlich. Sie müssen klar erkennen, dass die Sieger sie nicht als Feinde betrachten und zertreten wollen.“
Versöhnung liegt nicht in seiner Hand
Bidens Versöhnungsrhetorik ist eine schöne Botschaft, aber sie trägt nicht wirklich, kommentiert die taz:
„Heilung heißt auch, Klimawandel ernst nehmen. Heilung heißt auch, den Rassismus endlich wirklich anzugehen, die multiethnische und multikulturelle Gesellschaft nicht zu bekämpfen, sondern zu feiern und zu gestalten. Für diejenigen, die per Wählerstimme 2016 und 2020 Trumps Plan zustimmten, die Privilegien der weißen US-Amerikaner*innen wiederherzustellen und zu verteidigen, bedeutet Bidens Programm nicht Heilung, sondern Angriff. Es ist in Ordnung, wenn sich Biden ein paar Tage lang als Pastor hinstellt und Nächstenliebe predigt. Aber es liegt nicht in seiner Hand, wie die Gegenseite darauf reagiert, und er darf daran auch nicht seine Politik ausrichten.“
Entschlossen zur Verständigung
Biden sagt dem Populismus den Kampf an, freut sich Chefredakteur Maurizio Molinari in La Repubblica:
„Bidens Antrittsrede enthält ein Bekenntnis zur Wiederherstellung der Stärke der Demokratie. … Am Ende glich sie einem Manifest von Ideen zur Überwindung des Populismus. Biden bringt seine Überzeugung mit großer Entschlossenheit zum Ausdruck. Diese hat ihre Wurzeln in der Mittelschicht, aus der er stammt, im Glauben an die Nation, der ihn auszeichnet, und in der Erfahrung der Zementierung überparteilicher Verständigungen auf dem Kapitol der Vereinigten Staaten. Verbündete und Gegner der USA sollten Biden also ernst nehmen und damit rechnen, dass dieser Pragmatismus bald zu Initiativen und Maßnahmen führen wird, die sie auf die Probe stellen werden.“
Mit der Musik alles richtig gemacht
Die Kleine Zeitung erkennt im Rahmenprogramm der Vereidigung vielversprechende Signale:
„Lady Gaga sang die offizielle Hymne, Jennifer Lopez die inoffizielle, Garth Brooks 'Amazing Grace'. ... [J]enes pathetische Lied über das Seelenheil und die Kraft der Veränderung nach einem schweren Schicksalsschlag. Brooks trat mit seinem Cowboyhut und seiner Jeans mit Schnallengürtel auf die Bühne des Anzug tragenden Washington. Die Ikone des roten, republikanischen Amerikas als Antipode zur elitären Politikblase. Und jener Brooks, selbst ein überzeugter Republikaner, ruft zum Ende des Liedes zum Mitsingen auf. Nicht nur die Zuschauer vor dem Kapitol, sondern alle daheim und bei der Arbeit. 'Gemeinsam als Eines.' Danach gibt er erst Biden, dann Harris die Hand. Er klatscht als einziger Vortragender Mike Pence ab und umarmt George W. Bush. Es ist ein Angebot der Versöhnung. Biden hat verstanden.“
Worte sind ein erster Anfang
Schon die Ansprache von Joe Biden war der Beginn der Versöhnung, lobt NRC Handelsblad:
„Biden bat um einen Moment der Stille im Gedenken an die gut 400.000 Amerikaner, die an Covid-19 starben - eine selbstverständliche Geste, die nach dem Narzissmus von Trump wie eine große Erleichterung wirkte. Er unterstrich, dass die USA schon häufiger vor großen Herausforderungen gestanden waren und diese nur durch Eintracht überwunden hatten. Und er versprach, für alle Amerikaner da zu sein - ein Klischee, aber ein unvermeidliches Klischee. Der Name Donald Trump fiel nicht einmal. Ein Land vereint man nicht mit einer Rede. Aber es ist zumindest ein Anfang, wenn die Sprache der Zersetzung und Intoleranz vertrieben wird von einem hoffnungsvollen Vokabular von Einheit und Versöhnung.“
Nicht ins andere Extrem rutschen
Biden muss aufpassen, die Amerikaner mit seiner neuen Doktrin der Toleranz nicht zu überfordern, warnt Webcafé:
.„Die große Sorge ist, dass sich das Pendel nach dem Paradigmenwechsel einfach dem anderen Extrem zuwenden wird. Dass sich die Politik der neuen Regierung ausschließlich auf Minderheitenrechte, den Kampf gegen Diskriminierung und alle anderen linken Themen konzentrieren wird. … So hat das Repräsentantenhaus sich entschieden, eine geschlechtsneutrale Sprache zu verwenden. Es mag sein, dass sich nicht viel dahinter versteckt, aber es ist immerhin ein Signal. Die Wahrheit ist, dass die Demokraten, wenn sie wirklich Einigkeit erreichen wollen, sich in erster Linie auf das konzentrieren müssen, was die Anhänger des ehemaligen Präsidenten so sehr verärgert hat“
Kriegerische antikonservative Rhetorik
Während Trump weiter den Mythos der geklauten Wahlen hochhält, setzten die Demokraten dem eine eigene Version entgegen, zeigt sich der rumänische Dienst der Deutschen Welle besorgt:
„In dieser vermischen sich Realität und Fiktion - nämlich das Märchen von internem Terrorismus und einem Staatsstreich. … Auch einige klare Köpfe unter den Linksliberalen sind alarmiert von der kriegerischen antikonservativen Rhetorik. [Journalist] Glenn Greenwald hat klar Stellung bezogen gegen die Maßnahmenorgie von Zensur und Gedankenpolizei durch die Monopole im Silicon Valley und keinen Hehl gemacht aus seiner Besorgnis über die 'Militarisierung' der US-Hauptstadt, die an die Green Zone in Bagdad erinnert.“
Das globale Epizentrum der Instabilität
Mit wenig konstruktiver Politik von Seiten der Republikaner rechnet Ökonom Nouriel Roubini in Les Echos:
„Die USA sind politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich so stark gespalten, dass mehr als vier Jahre vernünftiges Regieren nötig sein werden, um die verursachten Schäden zu beheben. ... Aller Voraussicht nach werden die Republikaner ihr Möglichstes tun, um die neue Regierung zu sabotieren, wie dies bereits während der Präsidentschaft von Barack Obama geschah. … Die USA werden wahrscheinlich in den kommenden Monaten und Jahren zum neuen globalen Epizentrum politischer und geopolitischer Instabilität. Amerikas Verbündete müssen sich bemühen, die Risiken einer Rückkehr des Trumpismus zu begrenzen. Seine strategischen Konkurrenten werden weiterhin versuchen, es durch asymmetrische Konflikte zu destabilisieren.“