Putsch in Myanmar: Was sollte Europa jetzt tun?
In Myanmar hat am Montag das Militär die Macht übernommen - just an dem Tag, an dem das im November neu gewählte Parlament zum ersten Mal hätte tagen sollen. Die bisherige Regierungschefin und Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi sowie der Präsident wurden festgenommen. Das Militär begründete den Putsch mit angeblichem Wahlbetrug. Beobachter fürchten, dass Europa nun unklug reagieren könnte.
China steht schon bereit
Philipp Annawitt war bis 2020 für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen in Myanmar tätig. In einem Gastkommentar im Standard mahnt er:
„[D]ie EU [sollte] den 'Everything But Arms'-Handelsstatus, der für die Wirtschaft in Myanmar so wichtig ist, noch nicht infrage stellen. Sollten einige Tage ohne Reaktionen verstreichen, wird sich der militärische Notstand konsolidieren. Die USA werden dann mit breiten Wirtschaftssanktionen den Zahlungsverkehr lahmlegen. Erste Bankstürme werden folgen. Die durch Corona angeschlagene Wirtschaft könnte kollabieren. Dann wird China schnell und entscheidend helfen. Und diese Hilfe hat ihren tragischen Preis: das Ende der demokratischen Öffnung und das De-facto-Ende der Souveränität Myanmars.“
Eine breite Koalition junger Demokraten fördern
Auch NRC Handelsblad warnt vor Wirtschaftssanktionen gegen das ohnehin arme Land, räumt aber ein:
„Die Möglichkeiten für gezielte Sanktionen gegen die Militär-Führung sind ziemlich begrenzt: Wegen der ethnischen Säuberungen hatten die USA und die EU bereits Militärs auf eine Sanktionsliste gesetzt. Es ist selbstverständlich, dass Suu Kyi freigelassen werden muss und ihre rechtmäßige Stellung wieder einnehmen muss. Aber der Westen darf sich nicht ausschließlich auf sie konzentrieren, wie in den vergangenen Jahrzehnten. Die Demokratie in Myanmar hat noch einen langen Weg vor sich - das erfordert eine breite Koalition junger Demokraten.“
Die Generäle zogen die Notbremse
Die staatliche russische Nachrichtenagentur Ria Novosti verteidigt den Militärputsch als notwendiges Übel:
„Die Militärs haben (wenngleich überzogen) jene Mechanismen genutzt, die sie selbst in der Verfassung von 2008 verankert hatten. Wozu? Um einfach die Macht zu ergreifen? Die hatten sie bereits vorher weitgehend. Nein, sie waren davon getrieben, Wirren und Chaos zu vermeiden. Denn nach ihrem Wahlsieg wollte die Partei von Suu Kyi Regionalchefs aus ihren Reihen einsetzen. Das sorgte für Unruhe in den Nationalstaaten [den hauptsächlich von Minderheiten bewohnten Gebieten] - wo die Unterstützung für Suu Kyi geringer und das Unruherisiko höher ist. Denn Partisanen und halblegale nationale Milizen sind in Myanmar noch immer gegenwärtig. Die Militärs wollten nicht, dass zu den vorhandenen ethnischen und regionalen Konflikten neue hinzukommen.“
Selbstzerstörerischer Kompromiss
Aung San Suu Kyi hätte sich nicht mit den Generälen des Landes arrangieren dürfen, meint The Irish Times:
„Aung San Suu Kyi hatte mit dem Militär einen Modus vivendi auf Basis der 'vereinbarten' Verfassung gefunden. Das Militär blieb eine Kontrollinstanz der zivilen Macht, indem es drei Ministerien und ein Viertel der Parlamentssitze für die Generäle reservierte. Es war ein Kompromiss, der dazu führte, dass Aung San Suu Kyi die Übergriffe der Armee nicht kritisierte - insbesondere das genozidartige Vorgehen gegen und die erzwungene Vertreibung der Minderheit der Rohingya. Auf eine solche Strategie zu setzen, aus der man kaum wieder herauskommt, war gefährlich und letztendlich selbstzerstörerisch. Damit hat Aung San Suu Kyi ihren internationalen Ruf so gut wie zerstört, auch wenn sie in der Heimat weiterhin beliebt ist.“
Überflüssige Übernahme
Das Militär hätte auch so genug Macht gehabt, findet Postimees:
„Das Grundgesetz gewährt dem Militär ein Viertel der Parlamentsplätze und Kontrolle über wichtige Ministerien. Die Fassade der Demokratisierung hat es ermöglicht, die Beziehungen zum Westen wiederherzustellen. ... Tatmadaw [die Armee] will zeigen, dass Demokratie nicht funktioniert und die demokratischen Kräfte stärker korrumpiert sind als das Militär. Allgemein überwiegt aber die Haltung, dass Aung San Suu Kyi und ihre Partei NLD die einzig legitime Volksvertretung sind. Auch wenn sie nicht alles perfekt machen. ... Da Tatmadaw seine Position im Lande eigentlich nicht verloren hatte, kam die Machtübernahme überraschend. ... Laut einer Theorie sind interne Spannungen und Machtkämpfe ein Grund.“
Aung San Suu Kyi hat sich selbst verzwergt
In dem Putsch findet die Geschichte der Freiheitskämpferin ihren tragischen Tiefpunkt, kommentiert der Südostasien-Korrespondent der ARD, Holger Wenzel, auf tagesschau.de:
„Sie hatte sich gemein gemacht mit jenen, die Menschenrecht brechen und Demokratie verachten. Die einst auch im Westen gefeierte Freiheitskämpferin hatte ihren internationalen Ruf verspielt. ... Es ist müßig, über ihre Motive zu spekulieren. Ob sie sich von Amt und Macht hat korrumpieren lassen oder glaubte, keine Wahl zu haben. ... Indem sie sich der Armee als demokratisches Feigenblatt andiente, hat sie auch das eigene Volk betrogen. Das hat ihr bei den letzten Wahlen einen furiosen Erdrutschsieg beschert - doch genutzt hat es ihr am Ende nichts: Die Armee hat sich ihrer willfährigen Handlangerin entledigt.“
Günstige Bedingungen für die Generäle
Das Militär nutzt die geopolitische Situation, analysiert Corriere della Sera:
„Der heuchlerische Spagat der 'unvollendeten Demokratie' hat das Land isoliert. Das Militär aber weiß, wie man mit der Geopolitik spielt. Es glaubt, in die Herausforderung zwischen Washington und Peking schlüpfen zu können. General Min Aung Hlaing, der Frontmann des Putsches, steht bereits unter persönlichen Sanktionen der USA wegen des Rohingya-Dossiers und hat nichts zu verlieren. Seine Mitstreiter hoffen, dass das Weiße Haus Schwierigkeiten hat, einen ethischen Weg zu finden, den Druck zu verschärfen, ohne die Bevölkerung weiter leiden zu lassen. Zudem wissen die Generäle, dass ihr Land strategisch wichtig ist für Chinas Seidenstraße. Gestern beschränkte sich China darauf zu sagen, man habe die Veränderung der Situation 'bemerkt' und wünsche sich 'politische und soziale Stabilität'.“
Eine Kränkung zu viel
Die alte Garde wollte den Wahlsieg nicht auf sich sitzen lassen, erklärt Corriere del Ticino:
„Das Parlament wäre gestern zum ersten Mal nach der Wahl zusammengetreten, die den überwältigenden Sieg der NLD und die Demütigung der Militärpartei brachte. Diese Demütigung hat wahrscheinlich den Durst nach Autoritarismus in der Militärjunta ausgelöst. … Dabei darf man nicht vergessen, dass alle starken Männer des Regimes aus der alten Sozialistischen Programmpartei stammen. … Im Laufe der Jahre wurden viele zweideutige Begriffe geprägt für den rein theoretischen Wunsch, den politischen Geist des Landes zu verändern: Vom 'burmesischen Weg zum Sozialismus' über 'Volksdemokratie nach sowjetischem Vorbild' bis zur aktuellen 'in der Disziplin aufblühenden Demokratie'. Alles Begriffe, die vor allem der großen Mutter China, Myanmars wichtigstem Handelspartner und Schutzpatron, wenig passend erschienen sein müssen.“