Nach dem Brexit: Krisenherd Nordirland?
In Nordirland gibt es seit rund einer Woche nächtliche Ausschreitungen. Am Donnerstagabend bewarfen über hundert Jugendliche im Westen von Belfast sich gegenseitig sowie die Polizei mit Molotowcocktails und Steinen, woraufhin diese Wasserwerfer einsetzte. Kommentatoren sehen die seit dem Brexit verschärften Spannungen zwischen pro-britischen und pro-irischen Kräften nicht als einzigen Grund.
Armut ist ein Rezept für Chaos
Besonders soziale Missstände sind Ursache für die Ausschreitungen, glaubt The Spectator und erklärt, was zu tun ist:
„Unionistische Politiker müssen einen Weg finden, den Kontakt mit ihrer rastlosen Basis wieder herzustellen, um die ruinöse Gewalt einzudämmen. Der irische Premierminister muss weiter darauf beharren, die von gnadenlosen Fundamentalisten geforderte Abstimmung über die Grenzfrage nicht zuzulassen, die die Gräben nur vertiefen würde. ... Die britische Regierung muss dringend den wirtschaftlichen Aufschwung benachteiligter Stadtteile in Nordirland ins Auge fassen ... Die nordirische Regierung muss sich ganz unverhohlen darauf konzentrieren, protestantische Arbeiterjungs von den kalten Straßenecken ins Warme zu holen, damit sie ihr Potential in Wohlstand verwandeln können.“
Jugendliche wollen Krieg spielen
Die Randale geschehe auch aus Langeweile, glaubt The Irish Independent und verweist auf einen Jungen, der am Montag den ersten Molotowcocktail des Abends warf:
„Viele der Randalierer sind gelangweilte Kinder, die nach Abwechslung in Gegenden suchen, wo es angeblich nichts anderes zu tun gibt. Fragt diesen mageren Jungen und seine Kumpels nach den Vor- und Nachteilen des Nordirland-Protokolls. Sie hätten keine Ahnung. Unsere aktuellen Handelsvereinbarungen sind nicht Gesprächsstoff in ihrem Alltag. ... Bis spät draußen zu bleiben und mit den 'großen Jungs' zu spielen dürfte für viele der Höhepunkt ihres Lockdown-Jahrs gewesen sein. .... [Der Ärger auf unseren Straßen] folgt einer langen Tradition, die Kummer für viele bedeutet und die Lebenschancen der teilnehmenden Jugendlichen ruiniert.“
Konstruierte Bedrohungslage
Für Il Manifesto sind die Jugendlichen
„Opfer einer aufrührerischen und paranoiden Rhetorik, die von Ängsten geschürt wird, die einen unheilvollen Schatten auf die Zukunft einer Gemeinschaft werfen, die sich zunehmend eingekreist fühlt. Die Ängste scheinen ihren Ursprung in zwei Ereignissen zu haben: Im Brexit-Protokoll, das zur Vermeidung einer harten Grenze zwischen den beiden Irlands die faktische Verlagerung der Zollgrenze ans Meer vorsieht. Und in der Entscheidung der nordirischen Polizei, den angeblichen Verstoß gegen Anti-Covid-Regeln durch Mitglieder der Sinn Féin anlässlich der Beerdigung des historischen Republikanerführers Bobby Storey im vergangenen Sommer nicht zu verfolgen. Diese Entscheidung wurde instrumentalisiert als ein Akt der Bevorzugung der Republikaner.“
Gefährliche Tatenlosigkeit der Downing Street
Die Gewalt geht auf die Kappe von Boris Johnson, meint The Guardian:
„Johnson hat Grenzkontrollen zwischen Großbritannien und Nordirland erlaubt, um sein Brexit-Abkommen mit der Europäischen Union zu retten. Von Anfang an war klar, dass es – gelinde gesagt – eine große Herausforderung sein würde, den Unionisten dieses Zugeständnis zu verkaufen. Aber statt sich dem zu stellen, hat seine Regierung versucht, das Problem einfach auszusitzen. Letzten Monat hat Großbritannien die Übergangsfrist für die Einführung von Kontrollen des Warenverkehrs nach Nordirland einseitig verlängert. In London scheint man sich kleinmütig zu weigern, sich wirklich einzumischen.“
Little England statt Global Britain
Für die Großbritannien- und Irland-Korrespondentin des Deutschlandfunks Christine Heuer ist Nordirland nur die Spitze eines Eisbergs an Problemen, die der Brexit dem Vereinigten Königreich beschert hat:
„Besonders sichtbar, weil die Spaltung in Unionisten und Nationalisten seit langem etabliert ist. Weil der Brexit sich dort am deutlichsten materialisiert. Und weil die Nerven hier besonders blank liegen. Aber auch in anderen Landesteilen gärt es längst. Nächsten Monat wählen die Schotten ein neues Parlament. Bestätigen sie die nationalistische Regierung, dann ist das eine Vorentscheidung für ein neues Unabhängigkeitsreferendum. Sogar im Brexit-freundlichen Wales liebäugeln immer mehr Bürger damit, sich von London loszusagen. Am Ende könnte England allein dastehen mit seinem Brexit: Little England statt Global Britain.“