Putins Rede an die Nation: Was er nicht gesagt hat
Wegen der Lage in der Ukraine, aber auch der aktuellen politischen Streitigkeiten Russlands mit EU und USA, war Wladimir Putins diesjährige Rede an die Nation mit gewisser Spannung erwartet worden. Einschneidende Entscheidungen wurden jedoch nicht verkündet, der Schwerpunkt lag bei sozialen und wirtschaftlichen Maßnahmen. Kommentatoren haben dafür sehr unterschiedliche Deutungen.
Erfreulicherweise völlig langweilig
Echo Moskwy findet es ausnahmsweise positiv, dass Putins Rede faktisch belanglos war:
„Man hatte erwartet, dass Russland Belarus schluckt, nicht umsonst kommt Lukaschenka jetzt zu uns. Man erwartete die Anerkennung der [ostukrainischen 'Volksrepubliken'] DNR und LNR und Krieg mit der Ukraine - nicht umsonst wurde der Föderationsrat außerordentlich einberufen. Wir rechneten damit, dass wir die Diplomaten aller Herren Länder ausweisen. Kurzum, wir waren auf das Schlimmste gefasst. Doch der Präsident hatte geradezu Kreide gefressen. Was für eine Erleichterung. Sogar der Rubelkurs stieg angesichts der öden und leeren Rede.“
Eine extra Portion Zuckerbrot
Der Politologe Abbas Galljamow wirft Putin in einem von newsru.com übernommenen Facebook-Post vor, Politik durch Sozialleistungen zu ersetzen:
„Anstatt über Politik und die Vorwürfe des aktiveren Teils der Bevölkerung gegenüber der Staatsmacht hat Putin über Gott und die Welt gesprochen: Kindergeld, Tourismus, Wohnungsbau, die Anschaffung von Krankenwagen etc. pp. ... Da die meisten Probleme, die in der Jahresrede angesprochen wurden, mit zusätzlichem Geld gelöst werden sollen, kann man das als einen Versuch werten, sich freizukaufen. ... Immerhin spielt der wachsende Protest in diesem Sinne eine positive Rolle: Würden die Menschen nicht demonstrieren, hätte es heute deutlich weniger Zuckerbrot gegeben.“
Verschwörungstheorien statt Sachfragen
Die Rede drehte sich viel um Russland als Opfer des Westens, analysiert Jutarnji list, aber nicht um so wichtige Themen, wie
„zum Beispiel die [von Außenminister Lawrow so genannten] 'toten Beziehungen' zu Brüssel, und insbesondere nicht die fast kriegerisch angespannten Beziehungen zur Ukraine und den Truppenaufmarsch an der Grenze zu dem Land. ... Der russische Präsident erwähnte auch nicht den Vorschlag des ukrainischen Staatschefs Wolodymyr Selenskyj, sich im Donbass zu treffen. Hauptsächlich sprach er über die angebliche Verschwörung und geplante Liquidierung des belarusischen Präsidenten Lukaschenka, die russische Geheimdienste vor einigen Tagen aufgedeckt hätten. ... Der Westen habe immer 'Russland als Zielscheibe'.“
Alles andere als geschwächt
Putin fühlt sich ermuntert, den starken Mann zu spielen, analysiert Corriere della Sera:
„Die Popularität des Präsidenten liegt bei über 60 Prozent und scheint trotz der aktuellen Ereignisse nicht zu sinken. Im Gegenteil, die zunehmend erbitterte Konfrontation mit dem Westen scheint sie neu zu beleben. Gestern sprach der Präsident über die mächtigen neuen Waffen, mit denen die russische Armee bald ausgestattet sein wird. ... Er versprach Geld für fast alle sozialen Bereiche. ... Die gegen Russland verhängten Sanktionen sind schwach und Biden hat die globale Rolle des Kremls anerkannt, indem er Putin zu einem Gipfel zu zweit einlud. Dies ist ein weiterer Grund, warum Wladimir Wladimirowitsch die Konfrontation mit seinen Nachbarn nicht zurückfährt, von der Tschechischen Republik bis zur Ukraine.“