Wie die Muster im Israel-Palästina-Konflikt durchbrechen?
Der Israel-Palästina-Konflikt ist in den letzten Tagen besonders heftig aufgeflammt, und doch scheinen viele Handlungen und Reaktionen einer bekannten Dramaturgie zu folgen. Die radikale Hamas feuert Raketen auf israelische Städte, Israels Armee reagiert mit Gegenschlägen auf Gaza und beruft sich auf das Recht zur Selbstverteidigung. Europas Presse erörtert Auswege aus der festgefahrenen Situation.
Noch einen Coup von der Feuerpause entfernt
Um einem Waffenstillstand zuzustimmen, benötigt Israel einen letzten Paukenschlag, analysiert La Repubblica:
„Ein Foto, ein Ereignis, ein Symbol zum Vorzeigen, das einen Waffenstillstand rechtfertigt. ... Dabei hat Bibi [Netanjahu] ein scheinbar kleines, aber für ihn sehr wichtiges Ziel bereits erreicht, nämlich die Verhandlungen zwischen einer rechten und einer linken Partei zur Bildung der Regierung ohne ihn auszuschließen. 'Er müsste nur noch einen Joker ziehen, um den Waffenstillstand zu akzeptieren', glaubt Yossi Yehoshua von [der israelischen Zeitung] Jedi’ot Acharonot, am besten noch einen Top-Hamas-Führer eliminieren. ... Die Ermordung eines der Anführer wäre eine blutige Vergeltung, die der israelischen Regierung als Grund genügen könnte, die Jagdbomber zu stoppen.“
Israel braucht ein neues Wahlrecht
Für eine nachhaltige Deeskalation braucht Israel grundlegende Reformen, erläutert Jean-Loup Bonnamy, Experte für Geopolitik, in Marianne:
„Das Verhältniswahlsystem begünstigt die Apparatschiks der Parteipolitik, beflügelt klientelistische Haltungen, beispielsweise zugunsten von Siedlern, macht die Mehrheiten instabil und drängt den Likud dazu, sich mit kleinen rechtsextremen Parteien zu verbünden und somit seine Politik zu verschärfen. ... So lange Israel nicht wieder charismatische und glaubwürdige Führungspolitiker bekommt, die sich für den Frieden einsetzen, so lange es sein Wahlsystem nicht reformiert, den Bau neuer Siedlungen nicht einfriert und nicht gegen seine eigenen extremistischen Gruppen durchgreift, werden wir weitere Blutbäder erleben.“
Selbstverteidigung kann vieles bedeuten
Netanjahus Politik wird den differenzierten Meinungen innerhalb Israels nicht gerecht, mahnt Avvenire:
„Viele wiederholen wie ein Mantra, 'Israel habe das Recht, sich zu verteidigen'. Eine geradezu offenkundige Feststellung, nur klärt sie nicht, was sich zu verteidigen bedeutet. Es genügt, die liberaleren israelischen Zeitungen zu lesen oder den Stimmen vieler Intellektueller im Land zuzuhören, um zu verstehen, dass die Bombardierung der Zivilbevölkerung von Gaza nicht als 'Verteidigung' wahrgenommen wird. Wenn Premier Netanjahu eine politische Linie verfolgt, die nur noch auf der Gegnerschaft und Dämonisierung der Araber und auf einer Politik der schleichenden Kolonisierung der strategisch wichtigsten palästinensischen Gebiete beruht, weigern sich viele Israelis, ihm zu folgen.“
Aussitzen und normalisieren geht nicht mehr
Die Hinhaltetaktik des israelischen Premiers geht gerade nach hinten los, meint Adevărul:
„Die Strategie von Netanjahu war bislang, den Konflikt mit den Palästinensern zu verwalten und nicht zu handeln, um den Konflikt zu lösen. Netanjahu will keine endgültige, abrupte Lösung, er weiß, dass die Zeit für Israel arbeitet - durch den Ausbau von Siedlungen und den Kauf von Immobilien in Ostjerusalem. Seine Strategie ist es, dass er das nötige Klima schafft, damit sich die Palästinenser an den neuen Zustand gewöhnen. Der aktuelle Konflikt verkompliziert das Kalkül von Netanjahu, er ist keinesfalls eine Gelegenheit, seine Macht zu wahren, denn irgendwann wird eine Verhandlungslösung zwischen beiden Seiten erforderlich sein.“
Palästinenser sind Geiseln des Terrors
Jetzt muss Israel hart vorgehen, meint der russische Oppositionelle Viktor Schenderowitsch in gordonua.com:
„Das palästinensische Volk ist wirklich bedauernswert: Es wird von Mördern als Geisel gehalten. Jeder Palästinenser, bei dem man Sympathie für die Juden erkennt, wird vernichtet. Ein palästinensisches Kind im Gaza-Streifen hat kaum eine Chance, etwas anderes als Kanonenfutter zu werden, und das ist natürlich eine schlimme Tragödie. Aber Israel kann den Palästinensern in der jetzigen Situation nur helfen, indem es die Führer der Hamas vernichtet – den Rest muss das palästinensische Volk selbst erledigen. Natürlich nur, wenn es für sich und seine Kinder eine Zukunft und nicht den gegenseitigen Tod will ...“
Drei unvereinbare Elemente
Warum Israel in einem unlösbaren Trilemma steckt, analysiert der Politologe Haizam Amirah Fernández vom Think Tank Elcano Royal Institute in El País:
„Israel kann nicht gleichzeitig ein jüdischer Staat sein, demokratisch bleiben und die Kontrolle über die aktuellen Gebiete und Siedlungen behalten. ... Will Israel ein jüdischer Staat und demokratisch sein, muss es die Besatzung aufgeben. Will es demokratisch sein und das gesamte Territorium kontrollieren, muss es aus dem jüdischen einen binationalen, gleichberechtigten Staat machen. Und will es ein jüdischer Staat sein und weiter die Gebiete Westjordanland und Gaza beherrschen, hört es automatisch auf, ein demokratischer Staat zu sein.“
Same procedure as every time...
Der Schriftsteller Etgar Keret schreibt in Libération:
„Keiner von uns vermag so recht zu verstehen, wie dieser Alptraum begann. Aber wir [die Israelis] wissen alle in unseren Herzen, wohin er führen wird: ... Wir werden noch mehr Gebäude in Gaza bombardieren, um unsere Feinde einen noch höheren Preis zahlen zu lassen, ungeachtet der vielen 'kollateralen' Opfer. ... Der Tod dieser palästinensischen Bürger und Kinder wird die Welt schockieren, und wir werden die Welt beschuldigen, heuchlerisch zu sein und mit zweierlei Maß zu messen. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag wird erklären, dass er eine Untersuchung einleitet, und wir werden erklären, dass diese Untersuchung antisemitisch ist, und am Ende, wenn das Ritual wieder einmal vollzogen ist - dann werden wir von vorne anfangen.“