Wie stehen die Chancen für Israels neue Regierung?
Israels Premier Netanjahu hat auf Twitter die Abgeordneten zum Widerstand gegen die neue Regierungskoalition aufgerufen, deren Bildung Oppositionsführer Lapid am Mittwoch verkündet hatte. Sie hat im Parlament eine knappe Mehrheit von 61 der 120 Sitze. Europas Medien sind skeptisch, ob die neue Regierung tatsächlich den Wandel herbeiführen kann und Netanjahu nach 12 Jahren sein Amt räumen muss.
Kampf bis zur letzten Sekunde
Netanjahu wird seinen Posten nicht freiwillig räumen, prophezeit Mediafax:
„Noch können wir nicht vom Ende der Netanjahu-Epoche sprechen. Das Votum im Parlament kommt erst noch und König Bibi wird bis zur letzten Sekunde kämpfen. In der Zeit bis zur Abstimmung wird er die 'Verräter' zur Strecke bringen, Mann für Mann.“
Mit diesen Leuten gibt es keinen Wandel
Von einer Koalition des Wandels zu sprechen, ist ohnehin der reine Hohn, findet der Politologe Zvi Schuldiner in Il Manifesto:
„Viele zentrale Figuren der neuen Koalition gehören der rassistischen Rechten an. Einige sind nicht weniger nationalistisch und fundamentalistisch als der Noch-Premier: Bennett, der Kandidat für das Amt des Premiers, führte den Rat der Siedler in den besetzten Gebieten. Der Kandidat für das Amt des Justizministers wird Gideon Saar sein: Er kommt aus den Reihen des Likud, wo er von Netanjahu besiegt wurde, der in ihm einen bedrohlichen internen Rivalen sah. Liberman, ehemaliger Verteidigungsminister und wegen mehrerer Korruptionsfälle angeklagt, übernimmt das Finanzministerium.“
Konzentration auf praktische Fragen
Die neue Regierung wird sich auf nur wenige Aufgaben konzentrieren müssen, sagt Helsingin Sanomat voraus:
„Bei dieser Zusammensetzung kann man erwarten, dass sich die Regierung auf praktische Fragen wie die Entwicklung der Wirtschaft, des Wohnungsbaus und der inneren Sicherheit konzentriert. Es ist möglich, dass größere Streitfragen außen vor bleiben. Und diese Regierung ist so fragil, dass ein schnelles Auseinanderbrechen niemanden überraschen würde.“
Zusammenhalt schaffen wäre revolutionär
Die Einheitsregierung darf keine Zeit mit ideologischen Gefechten verschwenden, mahnt auch die Frankfurter Rundschau:
„Anzupacken gibt es auch so genug nach vier Wahlgängen in zwei Jahren, in denen nicht mal ein ordentlicher Staatshaushalt verabschiedet werden konnte. Corona hat zahlreiche Unternehmen ruiniert. Noch längst nicht erholt haben sich zudem die Städte mit jüdisch-arabischer Bevölkerung von den jüngsten Unruhen. Wieder für ein stabiles Miteinander zu sorgen, wäre da angesichts des zerrissenen Zusammenhalts, nun ja, fast schon revolutionär.“
Ein Neubeginn ist möglich
Dagens Nyheter hofft, dass Netanjahu von der politischen Bühne verschwindet:
„Wenn es darum geht, zynisch auf Grundsätze zu pfeifen, ist Netanjahu unumstrittener Meister. Er lässt sich mit allen ein, mit Islamisten wie mit jüdischen Extremisten, um seine Verbündeten dann schließlich skrupellos zu hintergehen. ... Alles ist Netanjahus einzig verbliebenem Ziel untergeordnet - die Knesset dazu zu bringen, ihm Immunität zu verschaffen, sodass er sich aus dem Korruptions-Prozess herauswinden kann. Die Koalition seiner Gegner mag aussehen wie ein zum Sinken verdammtes Schiff. Doch die Person Netanjahu blockierte bisher alle denkbaren neuen Initiativen. Israel muss einen anderen Weg gehen, um Frieden und Demokratie zu sichern. Vielleicht kommt ein prinzipienloser Kompromiss da ganz gut zupass.“
Oppositionsbündnisse liegen im Trend
Der Europaabgeordnete Bernard Guetta sieht in Polityka Parallelen mit anderen Ländern:
„Was in Israel versucht wird, ist nicht nur israelisch. Er ist auch ungarisch, amerikanisch, russisch, mit einem Wort international, denn hinter diesem Versuch, den unabsetzbaren Benjamin Netanjahu durch eine 'Koalition des Wandels' zu ersetzen, die alle Parteien außer seiner eigenen zusammenführt, steht die unabdingbare Suche nach Erneuerung, die durch die allgemeine Umwälzung der politischen Grenzen gefordert wird. ... Dieselbe Idee, einen nationalen Konsens zu suchen, findet man auch bei Joe Biden, Alexej Nawalny und der ungarischen Opposition. In diesem Zeitgeist liegt der Ehrgeiz, die Grundlagen der nationalen Einheit und der freien politischen Debatte zwischen den Parteien wiederherzustellen, die alle zur Demokratie beitragen.“
Ein gemeinsamer Feind reicht nicht
Es gibt viele Beispiele dafür, dass die Bildung einer großen Koalition gegen einen gemeinsamen Gegner in der Praxis nicht aufgeht, erinnert Hospodářské noviny:
„In der Slowakei etwa löste das Koalitionsprojekt zur Verdrängung von Premier Robert Fico eine Dauerkrise aus. ... Die Illusion der Zusammenarbeit hielt dort weniger als ein Jahr an, bis sie vor allem am ungezügelten Ego von Premier Igor Matovič scheiterte. ... Es stellte sich heraus, dass der gemeinsame Feind als kleinster gemeinsamer Nenner einfach nicht ausreicht, damit völlig unterschiedliche politische Kräfte eine gemeinsame Agenda formulieren und durchsetzen können.“
Endlich werden Araber gehört
Der Journalist Iulian Chifu zeigt sich auf Adevărul zuversichtlich:
„Die Beteiligung arabischer Parteien an der Innenpolitik Israels wird obligatorisch, solange sie 20 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. Dies könnte solidere Brücken der Kommunikation mit den Palästinensern schlagen und sogar eine konstruktive Annäherung an den Friedensprozess auf einer neuen Basis der Verständigung ermöglichen. ... Es ist nicht einfach, die Blockaden sind vielfach, die Akteure sind nicht unbedingt geneigt, sich für die Lösung eines langen und vertrackten Konflikts stark zu machen. Doch ist es eine beispiellose Öffnung, die einen Trend in Israel und in der Region aufzeigt: Künftig wird auch die arabische Minderheit und ihre Beziehungen in den Territorien von Bedeutung sein, insbesondere im Westjordanland.“