Kann Ungarn weiter EU-Mitglied bleiben?
Nach der Verabschiedung des "Anti-Pädophilie-Gesetzes" hat die Debatte um die Vereinbarkeit von Ungarns rechtsstaatlicher Entwicklung mit seiner EU-Mitgliedschaft neue Fahrt aufgenommen. Kommissionspräsidentin von der Leyen nannte das Gesetz eine Schande, der niederländische Premier Rutte legte Ungarn nahe, einen EU-Austritt zu erwägen. Auch Europas Presse diskutiert, ob nun härtere Schritte angebracht wären.
Jedes Land darf seine Werte selbst festlegen
Die EU sollte sich aus Budapests Angelegenheiten raushalten, findet Le Figaro:
„Ist Ungarn etwa nicht im Recht? Wer außer Ungarn kann über die Erziehung der Jugend des Landes entscheiden? ... Der vorzeitige Rückgriff auf Artikel 2 des EU-Vertrags und auf 'europäische Werte' führt zu einem nutzlosen kulturellen Kalten Krieg. ... Um der Zukunft Europas willen muss Brüssel aufhören, sich in einen Club der Progressiven zu verwandeln, der von seinen Nationen immer mehr Integration verlangt. Gestern war es die wirtschaftliche und institutionelle Integration. Jetzt geht es auch um gesellschaftliche, kulturelle und damit um Bildungsintegration. Alles im Namen von 'Werten', deren Inhalt von NGOs statt von gewählten Regierungen bestimmt werden soll.“
Bewusste Provokation
Orbán setzt das Gesetz erfolgreich ein, um die antieuropäische Stimmung in Ungarn zu verstärken, bedauert der Unternehmer Gábor Bojár in hvg:
„Ich glaube nicht, dass die moderne westliche Wertvorstellung, die die Gleichberechtigung jeglicher, unter anderem auch sexueller Minderheiten als heilig erachtet, Fidesz nicht bewusst ist, und dass die Partei mit den heftigen Reaktionen aus dem Westen nicht gerechnet hat. Ich denke, sie hat diese sogar bewusst provoziert. ... Leider würde man im Westen das von Orbán geleitete Ungarn schon seit langem lieber außerhalb der EU und der Nato sehen. ... Man kümmert sich nicht einmal darum, dass man mit der harten Reaktion die Anti-EU-Propaganda Orbáns womöglich sogar unterstützt.“
Mit Religion hat das nichts zu tun
Das Argument vieler Befürworter des ungarischen Gesetzes, dass Homosexualität nicht mit christlichen Werten vereinbar sei, ist falsch und gefährlich, schreibt der Chefredakteur von 24 Chasa, Borislaw Sjumbjulew:
„Der Versuch, einen politischen Kampf zwischen Menschen, die für ihre Freiheit kämpfen und anderen, die sie einschränken wollen, ins Religiöse zu ziehen, ist zynisch und gefährlich. Ich bin Christ, ich würde sogar sagen ein orthodoxer Fundamentalist, und bin als solcher trotzdem gegen die Anti-Homosexuellen-Gesetze in Ungarn. Es geht hier nämlich um Bürgerrechte und nicht um Religion. ... Hass ist alles andere als ein christliches Gefühl.“
Den Geldhahn zudrehen
Brüssel sollte den ungarischen Premier endlich dort treffen, wo es ihm und seiner Regierung wirklich weh tut, fordert The Irish Times:
„Mit Ungarns von Hass geprägtem Anti-LGBTI+-Gesetz wurde eine rote Linie überschritten. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte soll Viktor Orbán gefragt haben, warum er in der EU bleiben wolle, und Ungarn vorgeschlagen haben, aus der Union auszutreten. Orbán steht gegen fast alles, wofür die EU steht, aber er hat keinen Anreiz, diese zu verlassen. Im Gegenteil: Der Fluss von EU-Geldern trägt dazu bei, ihn an der Macht zu halten. Es ist höchste Zeit, dass diese finanziellen Mittel zurückgehalten werden.“
Ausschluss wäre Unsinn
Europa muss sich für die Bürger in Ungarn stark machen, fordert Der Standard:
„Viktor Orbán, der als junger Mann als liberaler Politiker begonnen hat, ... hat das Gesicht verloren. Er hat nicht begriffen, was die Rechts- und Wertegemeinschaft EU im Kern ausmacht. Er ist Antieuropäer. Dennoch wäre es ein großer Fehler, jetzt den Kopf zu verlieren, gar den EU-Austritt Ungarns anzuregen, wie Rutte das im Zorn getan hat. Ganz im Gegenteil. Orbán ist nicht Ungarn. Die EU und ihre Staaten müssen umso mehr um die Ungarn, um die Bürger dort kämpfen. ... Orbán zu Fall bringen, das müssen die Ungarn selbst erledigen – am besten bei den nächsten Wahlen, wenn sie erkennen, auf welchen Irrweg sie ihr Anführer gebracht hat.“
EU-Spaltung zeigt sich immer deutlicher
Der Streit um Rechtsstaatlichkeitskriterien wird für die EU immer mehr zur Zerreißprobe, befürchtet La Stampa:
„Das lange politische Hinauszögern jeglicher Entscheidung, die notwendig wäre, um die EU als einen Raum gemeinsamer Werte zu retten, scheint sie an den Rand des Abgrunds gebracht zu haben. Die ungarische Frage wird unausweichlich, nicht nur wegen ihrer Schwere, sondern auch, weil sie verschiedene Ebenen des Bruchs innerhalb der Union markiert. Die äußerst harschen Worte der Kommissionspräsidentin haben im Europäischen Rat, in dem die Regierungschefs der Mitgliedstaaten tagen, wenig Resonanz gefunden. Nur 17 von 27 Staaten haben eine ähnliche Position eingenommen. ... Der Gegensatz zwischen den obersten Institutionen der Union wurde bereits Ende letzten Jahres deutlich, als der Europäische Rat das Parlament demütigte und dessen Text bis zur Bedeutungslosigkeit verwässerte.“
Zeit für eine Klage in Straßburg
Diskussionen und Verfahren im Rahmen von EU-Prozessen reichen nicht mehr aus, schreibt ein Kollektiv von Akademikern in Le Soir:
„Die [von Budapest getroffenen] Maßnahmen muss man im breiteren Kontext der bewussten Erosion der liberalen Demokratie in Ungarn sehen. ... Die Mittel der Europäischen Union, dagegen vorzugehen, sind begrenzt. Warum also nutzen wir dann nicht Europa im größeren Sinne, den Europarat, die Europäischen Menschenrechtskonvention und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte? Es ist Zeit für eine Klage in Straßburg: 'Belgien und 16 andere Mitgliedstaaten gegen Ungarn', um die Diskriminierung und die Angriffe auf die Meinungsfreiheit anzuprangern, derer sich die ungarischen Institutionen schuldig machen und die gegen die europäische öffentliche Ordnung verstoßen.“