Afghanistan: Scheitern mit Ansage
Nicht nur mit den Folgen der Machtübernahme durch die Taliban beschäftigen sich Europas Medien, sondern auch mit den Ursachen. Welche Ziele verfolgte der internationale Truppeneinsatz, wie beurteilte man ihn im Inland und welche Rolle spielt die Rivalität der Weltmächte?
Sie wussten nicht, was sie verteidigen sollten
Die Katastrophe in Afghanistan wurzelt in dem Umstand, dass es den Staat eigentlich gar nicht gibt, analysiert Upsala Nya Tidning:
„Die afghanische Armee war zusammen mit Polizei und anderem Sicherheitspersonal den Taliban zahlenmäßig überlegen und verfügte über modernste Ausrüstung. Warum legte man dann in einer Stadt nach der anderen die Waffen sofort nieder, sobald die Taliban-Truppen eintrafen? Wahrscheinlich, weil sie im Grunde nicht wussten, was zu verteidigen war. Der Staat Afghanistan existiert einfach nicht mehr, außer als internationales Projekt zur Terrorismusprävention und dem Versuch, demokratische Institutionen aufzubauen.“
Dieser Einsatz war ein großer Fehler
Die Präsenz der US-Amerikaner hatte keinen Sinn, findet Cyprus Mail:
„Nichts wurde erreicht, das viel gepriesene Nation-Building entlarvte sich als kaum mehr als eine westliche Fantasie, die die unvermeidliche Übernahme des Landes durch die Taliban noch einige Jahre verzögerte. Es gab nie ein zwingendes Argument für eine Invasion in Afghanistan. ... Es konnte nicht als 'terroristischer Staat' eingestuft werden und es befand sich nie im Krieg mit den USA oder der Nato, die ebenfalls in den Krieg verwickelt war, und hatte keine strategische Bedeutung. Dass die Taliban Osama bin Laden Zuflucht angeboten hatten, war keine rationale Rechtfertigung dafür, fast 20 Jahre dort zu bleiben, insbesondere nicht die zehn Jahre nach der Ermordung Bin Ladens.“
Spirale aus Terror und Krieg nicht zu stoppen
Den Terrorismus kann man nicht besiegen, meint Nahost-Experte Alain Gresh in Orient XXI:
„Er ist kein 'Feind', sondern eine Aktionsform, die im Laufe der Geschichte von so unterschiedlichen Bewegungen wie dem Anarchismus, dem Zionismus, der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), der baskischen Eta oder Al-Qaida, aber auch - und darüber wird viel weniger gesprochen - von Staaten (Frankreich in Algerien oder Israel im Nahen Osten) eingesetzt wurde. Man darf bezweifeln, dass diese Aktionsform verschwinden wird. Die amerikanische Niederlage in Afghanistan ist daher vor allem ein Zeichen für das Fiasko eines dieser nicht zu gewinnenden Kriege und ihrer verschiedenen Formen von der Sahelzone bis Kurdistan, von Palästina bis Jemen, die das nähren, was sie zu bekämpfen vorgeben. Wie lange wird es dauern, bis wir daraus die richtigen Lehren ziehen?“
Opfer der geopolitischen Rivalität
Die Lage in Afghanistan ist ein weiteres Beispiel für das Scheitern der internationalen Politik, klagt De Morgen:
„Afghanistan hätte mehr von einem Friedensabkommen profitiert mit einer Aufbaumission unter Leitung der Vereinten Nationen. ... Im Sicherheitsrat hatten die Amerikaner und Europäer 20 Jahre Zeit, darüber einen Konsens zu erreichen, denn auch die ständigen Mitglieder China und Russland haben Interesse an einem stabilen Afghanistan. Leider gönnen sich die Großmächte einander nicht das Salz in der Suppe, als Konkurrenten um die - auch afghanischen - Rohstoffe. Die Folge dieser Rivalität ist, dass sie sich demnächst mit der Schaffung von Sicherheitszonen für afghanische Vertriebene und Flüchtlinge befassen müssen und vielleicht sogar mit einem neuen Kampf gegen den Terror.“
Nationenbildung konnte nicht gelingen
Die internationale Gemeinschaft hat bei ihrer Mission in Afghanistan etwas Grundsätzliches nicht verstanden, erklärt der Diplomat und Journalist Harri Tiido in Eesti Päevaleht:
„Die Missachtung des Lokalen und der Wunsch der Nationenbildung waren große Fehler des Westens. Die Macht in Afghanistan war schon immer lokal, die schwache Zentralmacht bestand nur aus einer Vereinbarung der Stämme. Nun hat man versucht, einen Staat mit starker Zentralmacht zu etablieren, so wie früher die Briten und die Sowjetunion. Das Ergebnis ist das gleiche. Die Stämme, die untereinander im Konflikt sind, kann man nicht künstlich der Zentralmacht unterwerfen.“
Taliban näher an der Bevölkerung
Der Politikwissenschaftler Sotiris Roussos erläutert in News247, welchen Vorteil die Taliban gegenüber der afghanischen Regierung hatten:
„Die Eliten, die das Land regierten, hatten keine soziale Basis und keine Verbindung zu großen Teilen der Bevölkerung. … Auf der anderen Seite hatten die Taliban, obwohl sie überhaupt nicht die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung repräsentieren, enge Beziehungen zu großen Teilen der paschtunischen Volksgruppe und waren in bestimmten Regionen und Schichten verwurzelt. ... Auf der einen Seite haben wir also eine Regierung und einen Staat, die ausschließlich auf der Unterstützung der amerikanischen Militärpräsenz basierten, und auf der anderen Seite haben wir eine Volksbewegung, die barbarisch sein mag und extremistische Ansichten hat, aber es ist eine Volksbewegung, die 20 Jahre lang gekämpft und überlebt hat.“
Traditionen wurden ignoriert
Der Fehler der Nato war, die Stammestraditionen Afghanistans zu ignorieren, analysiert Večer:
„Obwohl Afghanistan seit Jahrtausenden so vielfältig ist, behaupteten sie, die Armee gehöre zum gesamten Land. Doch die tadschikischen oder usbekischen Soldaten wurden in den paschtunischen Dörfern, weil sie die Sprache nicht beherrschten, als vom Ausland bezahlte Besatzer wahrgenommen. Seit Jahrtausenden führten Afghanen ihre Dörfer, Städte, Stämme oder Nationen autonom und unabhängig von Kabul. Schickte ein Herrscher aus Kabul seine Gesandten in die Provinz, so fielen diese im Gegensatz zu den Europäern vor dem dortigen Herrscher auf die Knie. Kurzum, die westlichen Staaten, geleitet von ihren imperialistischen und kolonialistischen Ideen, haben eine weitere schwere Niederlage erlitten.“
Nur Selbstbefreiung hilft gegen Dschihadismus
Die Bevölkerung hat sich nicht gegen den Vormarsch der Taliban gewehrt, beobachtet der Chefredakteur von La Repubblica, Maurizio Molinari, und macht dafür folgende Ursache aus:
„Die Afghanen haben kein Vertrauen in ihre Regierung, und das bedeutet, dass zwanzig Jahre imposanter ausländischer Hilfe nicht ausreichend waren, um die Ablehnung des Dschihad im Inneren des Landes keimen zu lassen. … Es ist gut, sich die eindringliche Lehre aus den Geschehnissen in Kabul vor Augen zu halten: Der Dschihadismus kann nur entwurzelt werden, wenn die Muslime in den einzelnen Ländern die Kraft und den Mut finden, ihn aus eigener Entscheidung und Überzeugung abzulehnen. Es ist eine moralische und politische Stärke, die aus ihnen selbst kommen muss und die nicht einmal die mächtigste Armee ersetzen kann.“
Nicht alle wollen wie der Westen sein
Die Situation in Afghanistan ist auch eine herbe Niederlage für den Westen, bilanziert Jyllands Posten:
„Der Westen hat sich selbst überschätzt, die Unwiderstehlichkeit seiner Werte und seinen Glauben, dass jeder so sein will wie wir, unabhängig von Geschichte, Kultur und Identität. ... Es ist Zeit, nach Hause zurückzukehren. In Kabul herrscht derzeit Panik auf der ganzen Linie. Westliche Länder evakuieren ihre Botschaften. Es ist eine Niederlage von allem, woran wir im Westen glauben. Und leider zeigt es auch unsere nachlassende Fähigkeit, das zu verteidigen, woran wir glauben.“
Demokratieexport ist gescheitert
Der internationale Einsatz in Afghanistan hat für Hospodářské noviny ein entscheidendes Ziel verfehlt:
„Es gelang den westlichen Alliierten nicht, einer auf völlig anderen Traditionen, Religionen und Denkweisen basierenden Gesellschaft zumindest zu einem funktionierenden Staat zu verhelfen. … Das grundlegende Problem war und ist die unglaubliche Korruption und das Misstrauen gegenüber den Institutionen eines Staats, der in der Geschichte Afghanistans noch nie die Rolle einer wirklich allgegenwärtigen und einflussreichen Institution gespielt hat. Im Korruptionswahrnehmungsindex 2021 von Transparency International rangiert der Bergstaat auf Platz 165 von 180 bewerteten Ländern. Und dies, nachdem er sich in den letzten zehn Jahren schon stark verbessert hatte.“
Hausgemachtes Problem
Afghanistan hat die Chancen der vergangenen 20 Jahre nicht genutzt, kritisiert die NZZ am Sonntag:
„[T]rotz Milliardenbeträgen und Ausbildnern aus den USA und der Nato vermochte es die Regierung nicht, eine den Islamisten gewachsene Armee aufzubauen. ... Und mit den Stammesführern auf dem Land rang die Regierung lieber um Einfluss, als sich mit ihnen gegen die Taliban zusammenzutun. Korruption und Misswirtschaft setzten dem ohnehin schwachen Staat zu. Kein Wunder, schlossen sich junge Männer in Scharen den strengen, aber vermeintlich rechtschaffenen Gotteskriegern an.“
Interventionen haben eben ihre Grenzen
Es ist verwunderlich, dass die US-Truppen überhaupt so lange in Afghanistan waren, findet The Daily Telegraph:
„Das soll nicht bedeuten, dass Bidens Entscheidung, den über zwei Jahrzehnte andauernden Versuch der Staatenbildung abzubrechen, weise oder gerecht ist. Aber der Abzug ist die Anerkennung der Grenzen, auf die westliche Demokratien bei militärischen Auslandseinsätzen stoßen. Die US-geführte Mission in Afghanistan umfasste mehrere demokratische und republikanische Präsidentschaften und dauerte doppelt so lange wie in Vietnam. ... Angesichts von immer wieder neu vor der Tür stehenden wichtigen Wahlen ist es überraschend, dass es überhaupt bis zur Biden-Präsidentschaft dauerte, bevor das Weiße Haus auf die Karte 'Bring die Truppe nach Hause' setzte.“