Afghanistan: Entwicklungshilfe trotz Taliban?
Viele Afghanen flüchten vor der Taliban-Herrschaft und einem drohenden Bürgerkrieg. Zusätzlich leidet das Land unter einer schweren Dürre und Hungersnot. Während die westlichen Staaten möglichst viele Landsleute und Ortskräfte ausfliegen, stellt sich die Frage, wie man den Menschen im Land helfen kann und ob weiter Geld in die Entwicklungshilfe fließen sollte.
Vergesst die großen Worte
Auch unter der Herrschaft der Taliban braucht das Land humanitäre Hilfe, meint die NRC Handelsblad-Kolumnistin und Agrarwissenschaftlerin Louise O. Fresco und erklärt, wie diese umgesetzt werden sollte:
„Lasst die großen Worte wie Demokratie und Nationbuilding einfach mal weg. Fangt einfach und konkret an. Die Entwicklung auf dem Land und die Nahrungsmittelversorgung müssen Vorrang haben, auch für die Taliban. Das geht nur, wenn die Großmächte gemeinsam vereinbaren, den Milizen weder Waffen zu liefern noch Geld zur Verfügung zu stellen. Und den Opiumhandel zu beenden. Wenn man die bewaffneten Gruppen unterhält, dann führt das zu Terror und Instabilität in den Dörfern. Das ist langfristig im Interesse von niemandem.“
Genau schauen, was die Gelder eigentlich bringen
Schweden will das Hilfsbudget für Afghanistan nicht beschneiden, "keine einzige Krone" davon soll laut Außenministerin Ann Linde aber an die Taliban gehen. Göteborgs-Posten fordert ein grundsätzlicheres Umdenken:
„Die Entwicklungshilfe-Debatte ging lange einzig und allein von der Prämisse aus, dass es nur die Alternativen Geiz oder Güte gibt. ... Das totale Debakel in Afghanistan zeigt nun allerdings, dass die Sache nicht so einfach ist. Nun, da sich das Modell des Aufbaus einer Nation als Potemkinsches Dorf erwiesen hat, dürfte die Zeit reif sein, Teile des bisherigen Modells der Entwicklungshilfe in Frage zu stellen. ... Nach 2021 sollten wir im Westen nicht mehr ohne weiteres davon ausgehen, dass aus guten Absichten tatsächlich der Nutzen folgt, den wir erhoffen.“
Wenn dem Land die kritischen Köpfe verloren gehen
La Stampa wirft einen kritischen Blick darauf, wie mit der Notlage in Afghanistan umgegangen wird:
„Die Rettungskampagnen sind durch eine unheilbar korporative Vision der Welt gekennzeichnet: Journalisten retten Journalisten, Ärzte retten medizinisches Personal, Feministen retten Frauen, und Schriftsteller retten Schriftsteller, deren Bücher sie nie gelesen haben. Ohne sich die Frage zu stellen, ob es nicht ein nettes Geschenk an die Taliban ist, all jene aus Afghanistan zu entfernen, die eine menschliche politische und kulturelle Alternative zu fundamentalistischem Gedankengut darstellen. … Die neuen Generationen im Emirat werden glauben, dass es jenseits des Einheitsdenkens nichts gibt - die beste Garantie für eine tausendjährige Herrschaft.“
Wir werden Afghanistan schlicht vergessen
Die innenpolitische Debatte über die Flüchtlingswelle wird dazu führen, dass man an die Not in Afghanistan schon bald nicht mehr denkt, befürchtet El Mundo:
„Wir werden Afghanistan vergessen, während eine neue Welle von Flüchtlingen in Europa ankommt. ... Neue Migranten, die wieder einmal humanitäre Debatten auslösen werden, die es niemals geben dürfte. Außerdem wird die Ankunft der Flüchtlinge, wie wir bereits sehen, genutzt, um übertriebene Regierungspropaganda zu verkaufen. Diejenigen, die vor der Angst fliehen, sind willkommen. Aber in der Zwischenzeit werden in Afghanistan wieder diejenigen vergessen, die unter der neuen Situation dort leiden werden.“