Streit EU-Polen: Was nun?
Im Streit um Polens Rechtsstaatlichkeit ist es vergangenen Dienstag zum Showdown in Straßburg gekommen: Kommissionspräsidentin von der Leyen drohte, die von Warschau beantragten Corona-Hilfen so lange zu blockieren, bis das Land die umstrittenen Justizreformen zurücknimmt. Polens Premier Morawiecki warf der EU Erpressung vor, führte aber Ende der Woche Vier-Augen-Gespräche mit Emmanuel Macron und Angela Merkel.
Schlechte Karten für Warschau
Brüssel sitzt am längeren Hebel, analysiert Pierre Haski, Kolumnist bei France Inter:
„In diesem weltweit einzigartigen Club werden die brennendsten Probleme zwischen leeren Drohungen und diskreten Verhandlungen geregelt. Am Ende wird es keinen Polexit geben, denn den wollen die Polen nicht, und die populistische Regierung in Warschau verfügt derzeit nicht über die Mittel, um die EU von Innen heraus zu ändern. Polen hat überdies einen Scheck in Höhe von 57 Milliarden Euro aus dem Wiederaufbaufonds, der darauf wartet, dass der Rechtsstreit gelöst wird. Das ist vielleicht 'Erpressung', aber sich über die Gemeinschaftsregeln hinwegzusetzen war auch auch nicht sehr korrekt. Im Kräftemessen steht es diesmal wirklich nicht gut für Polen.“
Brüssel misst mit zweierlei Maß
Auch in anderen EU-Ländern haben innerstaatliche Gerichte nationales Recht vor EU-Recht gestellt, kritisiert The Daily Telegraph:
„Vor allem hat sich das deutsche Bundesverfassungsgericht immer wieder das Recht vorbehalten, EU-Aktivitäten für nichtig zu erklären, wenn ihm diese nicht zusagten. Es hat dies wiederholt getan - zuletzt im vergangenen Jahr, als es erklärte, dass das quantitative Lockerungsprogramm der EZB rechtswidrig sei. Der Hauptunterschied besteht darin, dass sich die Regierung in Berlin bisher immer dafür entschieden hat, nicht auf die Urteile der innerstaatlichen Gerichte zu reagieren. Polen kann sich also zu Recht beschweren, dass das Land unfair behandelt werde.“
Sie wollen die EU zerstören
Dass der Anti-Brüssel-Kurs Polens auch bei dänischen EU-Skeptikern wie der Dansk Folkeparti Zuspruch findet, hält Berlingske für gefährlich:
„Das Bedrückende ist, dass die Politiker der Dänischen Volkspartei nicht erkennen, was Warschau tut. Unterstützt die Partei wirklich den eingeschlagenen Kurs Polens? EU-kritisch zu sein und Dänemarks EU-Austritt zu fordern - das ist völlig legitim. Aber eine systematische Unterminierung der Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und Minderheitenfreiheit? Dafür steht die polnische Regierung. ... Sich Polens Argumentation anzuschließen, bedeutet, Rechtsverletzungen zu legalisieren und die Unterdrückung demokratischer Rechte durch den Versuch, internationale Institutionen zu zerstören, fortzusetzen.“
Zwei weit voneinander entfernte Welten
Die Debatte im EU-Parlament zeigte, wie weit die Positionen voneinander entfernt sind, beobachtet Rzeczpospolita:
„In der von Premier Morawiecki vorgetragenen Version ist Polen ein Opfer der Doppelmoral von EU-Kommissaren und EuGH-Richtern und deren Missbrauch der Verträge. Das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts erinnere uns lediglich daran, dass die Republik Polen ein souveräner Staat ist. Aber es gibt auch die Welt, die von der Chefin der EU-Kommission Ursula von der Leyen präsentiert wird. … Von der Leyens Rede zur Rechtsstaatlichkeit entsprach an keiner Stelle dem, was Morawiecki nach ihr vortrug. Und wird es auch nicht. Denn die strategischen Ziele und das Verständnis der europäischen Werte des polnischen Premiers, der EU-Kommission und der Mehrheit im EU-Parlament sind heute völlig unterschiedlich.“
EU sitzt am längeren Hebel
Nach jahrelangem Zaudern zeigt Brüssel endlich seine Zähne, applaudiert La Stampa:
„Am Abend, bevor sich der Europäische Rat trifft, schlägt die Kommission drei Lösungen vor: eine juristische, die ein Verfahren gegen Warschau vorsieht, eine wirtschaftliche, die die Zuweisung der 36 Milliarden Euro, die im europäischen Wiederaufbauprogramm für Polen vorgesehen sind, an Bedingungen knüpft, und eine politische, nämlich die Aussetzung der Stimmrechte. Die drei Wege schließen sich nicht gegenseitig aus. ... Wie komplex der Prozess auch sein mag, im Kampf gegen den polnischen Autoritarismus sitzt die Union am längeren Hebel.“
Polexit wäre schlimmer als Brexit
Die EU muss alles in ihrer Macht Stehende tun, um einen Austritt Polens zu verhindern, bekräftigt Der Spiegel:
„Denn ohne Polen ist die europäische Einigung unvollendet. Die europäische Integration war nie als rein westeuropäisches Projekt gedacht. Sie sollte helfen, die Teilung des Kontinents zu überwinden. Das Ziel war, nach der Auflösung der Machtblöcke die mittel- und osteuropäischen Staaten in ein freies und demokratisches Europa zu integrieren. ... Ein Austritt Polens würde die Europäische Union ganz anders treffen als der Brexit. Großbritannien hat sich historisch stets am Rande des europäischen Spielfelds gesehen. Polen war immer mittendrin. Wenn Polen geht, dann bröckelt die ganze EU.“
PiS profitiert vom Streit
Tygodnik Powszechny blickt auf die innenpolitische Dimension des Streits:
„Die Verlagerung der Achse des politischen Streits in Polen auf die EU-Mitgliedschaft könnte für die Regierenden sogar von Vorteil sein. Und sei es nur, weil die Mehrheit der Gesellschaft unsere Mitgliedschaft in der Union als unumstößlich betrachtet. Diese Menschen werden mit den Achseln zucken, wenn von einem Austritt die Rede ist. Vor allem, wenn dem Regierungslager schließlich die Freigabe von Geldern aus dem EU-Wiederaufbauplan gelingt. Die Opposition erscheint dann als Warner, der ohne Grund die Alarmglocken läutet. Außerdem kann die Fixierung auf dieses Thema den Blick der Opposition auf die Probleme wie die steigenden Preise für Lebensmittel, Dienstleistungen, Strom, Gas und Benzin verstellen.“