Wird Putin schwächer und gefährlicher?
Der Krieg in der Ukraine geht in eine neue Phase. Immer mehr Staaten im Westen statten die ukrainischen Truppen mit schweren Waffen aus. Russland droht nicht nur mit dem Stopp von Gaslieferungen, sondern auch indirekt mit dem Einsatz von Atomwaffen. Europas Presse beschäftigt sich mit der Lage Putins und fragt sich, wie gefährlich der in die Enge getriebene Machthaber werden kann.
Angstmache mutig entgegentreten
Die Wiener Zeitung betont die Kluft zwischen Russlands Rhetorik und tatsächlicher Stärke:
„Dass Transnistrien Ausgangspunkt für einen großen Angriff auf Moldawien oder die Westukraine wird, ist wegen des von der Ukraine kontrollierten Luftraums und der geringen Truppenstärke dort ... ebenso unwahrscheinlich wie ein Nuklearschlag auf die Hauptstadt eines Nato-Landes. Putin benutzt vielmehr seine älteste und wohl auch effektivste Waffe: das Spiel mit der Angst. ... Scharf ist die Waffe der Furcht aber vor allem dann, wenn sie als scharf angesehen wird. Entlarvt man das Spiel mit der Angst und tritt diesem - so wie es die nordischen und baltische Staaten gerade getan haben - entgegen, verliert es schnell an Wirkung.“
Menschenleben haben für ihn wenig Wert
Russland ist leider wirklich unberechenbar, warnt hingegen Jornal Económico:
„Russland hat in diesem Krieg bereits bewiesen, dass es den Traditionen anderer Konflikte treu bleibt: nämlich der fast völligen Missachtung von Menschenleben, sei es der ukrainischen Zivilbevölkerung oder der eigenen Soldaten, wie die unglücklichen Menschen bezeugen können, die zum Ausheben von Gräben in dem verseuchten Gebiet um den Reaktor von Tschernobyl geschickt wurden. Diese Geringschätzung von Menschenleben macht Russland zu einem äußerst widerstandsfähigen und gefährlichen Gegner, sodass Putins möglicher Einsatz von Massenvernichtungswaffen von Militärexperten nicht mehr nur als theoretische Hypothese betrachtet wird.“
Ein Krieg ums politische Überleben
Spätestens nach Bekanntwerden der verübten Gräueltaten bleibt den Verantwortlichen nur die Flucht nach vorne, glaubt die im Exil neugegründete Nowaja Gaseta Ewropa:
„Zur Vermeidung neuer demonstrativer Exhumierungen wird die russische Armee keine besetzten Territorien mehr freiwillig räumen. ... Mit dem Angriff auf die Ukraine hat Putin seine Schuld manifestiert. Das dürften er und seine Erfüllungsgehilfen wissen. Und deshalb hat sich der Krieg mit der Ukraine in einen Krieg ums Überleben des Putinschen Systems verwandelt. Putin glaubt: 'Sieger richtet man nicht.' Will er sich der Verantwortung für den Angriffskrieg und die begangenen Verbrechen entziehen, lässt diese Logik ihm nur den Weg, um jeden Preis als Sieger oder zumindest als Ungeschlagener daraus hervorzugehen.“
Die Versuchung, Atomwaffen einzusetzen, wächst
Einen nuklearen Angriff hält The Economist für unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich:
„Letztlich könnte die Schwäche Russland dazu bringen, auf die letzte Kampfarena zu setzen, in der sie noch unbestreitbar eine Supermacht ist: bei chemischen, biologischen und nuklearen Waffen. Seit Beginn des Krieges haben Putin und seine Regierung wiederholt mit Massenvernichtungswaffen gedroht. Aber Putin ist insofern rational, als dass er das Überleben seines Regimes möchte, weshalb die Wahrscheinlichkeit für einen Einsatz dieser Waffen wohl gering bleibt. Aber die Versuchung einer Eskalation wächst, je mehr den russischen Streitkräften die konventionellen Optionen ausgehen.“
Schwäche lässt Rückhalt schwinden
Das loyale Umfeld des Präsidenten könnte sich schneller abwenden, als es im Moment scheint, glaubt Neatkarīgā:
„Nichts untergräbt Putins Macht so sehr wie ein Misserfolg in der Ukraine. Je schwächer Putins Macht, desto wahrscheinlicher ist es, dass Putins Befehl zum Einsatz von Nuklearwaffen ignoriert werden würde. Putins Macht beruht nur auf dem sogenannten Anführer-Charisma. Solange alles nach ihm geht, ist die gesamte Macht-Vertikale bereit, mit ihm bis zum Ende zu gehen. Sobald ein Misserfolg eintritt, ändern dieselben Personen ihre Haltung. ... Im Moment übermittelt Putins gesamter Hof denselben schizophrenen Albtraum wie alle russischen TV-Kanäle. Aber außerhalb des Fernsehens wird Putins Position immer schwächer.“
Kreml bleibt eine Black Box
Delfi spekuliert darüber, ob Putin aus den eigenen Reihen entfernt werden könnte:
„Der nicht siegreiche Krieg in der Ukraine hat das Fundament von Putins Macht erschüttert. Es wird gemunkelt, dass im Kreml die Suche nach den Schuldigen immer intensiver wird. ... Wenn so eine Spannung herrscht, dass jeder individuell für das Pech in der Ukraine beschuldigt werden kann, könnten die Generäle den Wunsch entwickeln, Putin zu beseitigen. Dann könnte man die ganze Schuld auf den ehemaligen Diktator schieben. ... Nach dieser Logik sollte die Beseitigung von 'Putler' keine große Überraschung sein. Anderseits ist das nur ein mögliches Szenario. Der Kreml an sich ist eine Black Box und wir wissen nicht, wer dort wie und unter welchen Umständen die Entscheidungen trifft.“
Wie schön es wäre ohne Putin
Sehr viele würden sich über ein einfaches Verschwinden des russischen Präsidenten freuen, schreibt der Publizist und ehemalige Duma-Abgeordnete Alexander Newsorow in Gordonua.com:
„Die zivilisierte Welt wartet noch immer mit verständlicher Ungeduld und Hoffnung auf ein tragisches Ende Putins. Das optimale Szenario ist natürlich ein plötzliches - bumm! - und Wladimir ist nicht mehr. Der Schuldige dieser erfreulichen Tat wird natürlich auf einer endlosen Tournee durch die Kontinente geschleppt, zum Welthelden erklärt. Vor ihm wird man Teppiche mit weißen Rosen ausbreiten. Und Präsidenten werden sich geduldig anstellen, um mit dem Retter der Menschheit auf ein Selfie zu kommen. ... Kein Vova [Putin] - kein Krieg, kein Tod, keine Probleme. Keine brennenden Städte, keine von Putins Bombenangriffen zerrissenen Kinder.“
Stärke basiert auch auf innerer Einstellung
Psychologieprofessorin Airi Värnik beschwört in Postimees die Bedeutung der positiven Projektion für Russlands Gegner:
„Man muss sehr vorsichtig sein bei der Darstellung des Bösen. Das Böse ergreift Initiative, überwältigt, das Böse ist ansteckend. ... Das Böse darf man nicht heroisieren, bewundern oder fürchten. Der Krieg zwischen Ukraine und Russland ist auch ein Krieg der spirituellen Stärke. Der Geist der Ukrainer ist beneidenswert stark, sowohl auf Kriegsschauplätzen als auch bei den Flüchtlingen, soweit wir das beobachten. Wir, die glauben, dass wir in diesem Krieg das Publikum sind, aber uns um uns selbst, die Ukraine und Europa sorgen, sollten schwarze Szenarien vermeiden und das Mantra 'Ukraine wird erfolgreich sein, Ukraine wird gewinnen' in unseren Seelen aufrechterhalten.“