9. Mai: Gedenken und Ukraine-Krieg
Am 8. Mai erinnern viele Länder Europas traditionell an die Befreiung vom Nationalsozialismus und das Ende des Zweiten Weltkriegs. Russland feiert mit einer großen Parade am 9. Mai auf dem Roten Platz den "Tag des Sieges" der Sowjetunion über Hitler-Deutschland. In diesem Jahr jedoch sind die Feierlichkeiten vom Krieg gegen die Ukraine überschattet, den Putin obendrein bewusst propagandistisch mit dem historischen Anlass verschränkt.
Vollkommene historische Verzerrung
Wie der Kreml die Geschichte instrumentalisiert, kritisiert La Stampa:
„Das Aufgebot von Fahnen und Aufklebern, Plakaten und Konzerten, mit Kindern in historischen Uniformen, die in Z-Formation marschieren, Sandwiches und Osterkuchen mit Symbolen für die 'militärische Spezialoperation' in der Ukraine, scheinen Symptome eines nationalen Wahns zu sein. Die Identifizierung des Zweiten Weltkrieg - der in Russland als Großer Vaterländischer Krieg bezeichnet und als Kampf zwischen Russen und Deutschen dargestellt wird, wobei die Rolle der Alliierten inzwischen selbst auf offizieller Ebene geleugnet wird - mit dem Krieg in der Ukraine ist vollkommen, wie die Postkarten mit lächelnden Soldaten und Soldatinnen und den Jahreszahlen '1945-2022' zeigen.“
Neue Heldenstädte in der Ukraine
Krytyka Polityczna schreibt über den Krieg und die Erinnerung in der Ukraine:
„Am Vorabend [des 9. Mai] halten die Russen die letzten Proben für die in Moskau und Mariupol geplanten Paraden ab. In Kyjiw wurden die den russischen und belarusischen Städten gewidmeten Tafeln vom Denkmal der Heldenstädte in der Straße des Sieges entfernt. An ihre Stelle traten Charkiw, Cherson, Tschernihiw, Mykolajiw, Wolnowacha, Ochtyrka, Butscha, Irpin, Hostomel und Mariupol. In all diesen Städten haben Putin, das russische Militär und die Russen, die den Krieg unterstützen, die Ukraine dem Erdboden gleichgemacht. Die Länder werden jedoch Nachbarn bleiben. ... Indem die Ukrainer sich gegen die physische Aggression wehren und die symbolische Dominanz aufkündigen, machen sie den ersten Schritt auf dem langen Weg, den die Russen mit ihnen gehen müssen, um den Teufelskreis der Gewalt zu verlassen.“
Vergangene Kriege in der Geschichte belassen
Der ehemalige Festtag hat nun vollends seinen Sinn verloren, meint Mikhail Zygar, von 2010 bis 2015 Chefredakteur des unabhängigen russischen Fernsehsenders Doschd:
„Die Schande des Krieges in der Ukraine ist so groß, dass er unweigerlich zu einer Ent-Imperialisierung Russlands führen muss - er wird Russland von seinen imperialen Ambitionen heilen. Und zugleich wird sich Russland von seinem Stolz verabschieden, der 'Retter der Welt vor dem Nazismus' zu sein. Es wird nichts mehr zu feiern geben - und das ist gut so. Wir sollten die Kriege der Vergangenheit in der Geschichte belassen, anstatt zu tun, als wären sie Teil der gegenwärtigen Politik.“
Fragwürdiges Flaggenverbot in Berlin
In Berlin hat die Stadtverwaltung für den 8. und 9. Mai russische und ukrainische Flaggen an historisch sensiblen Orten aus Sorge vor Zusammenstößen verboten. Tygodnik Powszechny hält das für falsch:
„Als die Ukrainer protestierten, erklärte man ihnen, man wolle an den Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs im Mai 1945 erinnern, 'unabhängig von dem, was im Mai 2022 geschieht'. Der Punkt ist, dass man das eine vom anderen nicht trennen kann. Nicht, nachdem Putin die Instrumentalisierung des Zweiten Weltkriegs zur Legitimation seiner Politik gemacht hat. Und nicht nur gegen die Ukraine: In Putins niederträchtiger Weltsicht werden nicht nur die Ukrainer zu 'Nazis', sondern alle, die sich Russland widersetzen.“
Russland stellt sich als Opfer dar
Für die Bevölkerung der von Moskau nach dem Zweiten Weltkrieg kontrollierten Gebiete gibt es nach wie vor wenig zu feiern, stellt Göteborgs-Posten klar:
„Es war die Sowjetunion, die Nazi-Deutschland im Wesentlichen besiegte. Aber die Rote Armee hat keine Länder befreit, sie hat eine brutale Unterdrückung durch eine andere ersetzt. ... Es wäre wirklich unheilvoll, wenn er [Putin] wie Stalin beschließt, die gesamte russische Bevölkerung für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu mobilisieren. Es würde den Tag des Sieges zu einer grotesken Tragödie machen, und würde dabei der völlig falschen Vorstellung entsprechen, dass Russland - ob kommunistisch oder nicht - immer das Opfer ist, niemals der Schuldige.“
Des Diktators neue Kleider bestaunen
Der Tag wird zu einer Gefälligkeitsveranstaltung für den Diktator, erwartet Radio Europa Liberă:
„Der 9. Mai ist für die heimische Bevölkerung gedacht und zugleich auch dazu, die Opposition einzuschüchtern und dem Diktator zu gefallen. ... Die Armee wird Größe demonstrieren, die durch den Realitätscheck vor Ort widerlegt worden ist, und die Untertanen werden schweigend der Machtdemonstrationen beiwohnen, ohne dass jemand den Mut aufbringen wird, zu sagen, dass 'der Kaiser' nackt ist.“
Putin wird seine bisherigen Erfolge bejubeln
Darüber, welche Ankündigungen am Montag aus Moskau kommen werden, spekuliert Corriere della Sera:
„Am 9. Mai, hieß es zunächst, würde Wladimir Putin eine 'Generalmobilmachung' ankündigen, begleitet von einer formellen Kriegserklärung. Diese These wurde gestern vom Kreml selbst und von mehreren Experten verworfen, denen zufolge der russische Präsident keine große Mobilisierung braucht, um den Sieg im eigenen Land zu erklären. Schon jetzt, so zum Beispiel der Analyst Dmitri Alperowitsch, könne er behaupten, die Ukraine 'entmilitarisiert' und 'entnazifiziert' zu haben, indem er ihre militärische Infrastruktur und das Asow-Bataillon zerstört und die russischsprachige Bevölkerung im Donbass und auf der Krim geschützt habe.“
Sowjetfahnen haben nun eine neue Bedeutung
Viele sonst an diesem Tag üblichen Symbole sollte man nun nicht mehr benutzen, erklärt Kommunikationsexperte Raul Rebane auf ERR Online:
„In Estland gibt es Menschen, für die der 9. Mai den Sieg im Zweiten Weltkrieg symbolisiert. Ein Teil will das feiern wie gewöhnlich: Gruppenzugehörigkeit zeigen und an Veranstaltungen teilnehmen. ... Doch Putin hat die Bedeutung der für Russland wichtigen Symbole verändert. So wie Hitler die Swastika [als NS-Hakenkreuz] für immer zum Symbol des Grauens verdammte, hat Putin aus dem Buchstaben Z, dem [schwarz-orangen] Sankt-Georgs-Band und der Sowjetfahne Symbole der Eroberung gemacht. Sie verursachen Angst. Und warum sollten wir zu Hause Angst haben? Also bleibt nur Eines: diese Symbole nicht mehr benutzen. Wem das nicht gefällt, kann sich bei Putin beschweren.“