Welche Botschaft geht von Putins Rede aus?
Bei der Ansprache zum "Tag des Sieges" auf dem Roten Platz hat Putin den Angriff auf die Ukraine als präventiven Schritt bezeichnet, der dem Frieden diene. Der Westen habe die Ukraine hochgerüstet und eine Invasion geplant. Die Rede enthielt weder eine offizielle Kriegserklärung noch Hinweise auf eine Generalmobilmachung. Europas Presse analysiert Inhalt und Wirkung.
Verhältnismäßig leise Töne
Le Temps sieht in der eher zurückhaltenden Ansprache ein Zeichen an die Nato-Staaten:
„Die sehr kurze Rede von Wladimir Putin hat durch ihre gemäßigte Form überrascht. Sie stand im Gegensatz zu der zur Schau gestellten Stärke seiner Armee. … Der Präsident ging sogar so weit, den französischen und britischen Einsatz im Zweiten Weltkrieg zu würdigen. Eine Zurückhaltung, die einige auch in Bezug auf das militärische Vorgehen in der Ukraine zu beobachten meinen. Anders als erwartet würde der Kreml dort nicht seine volle Kampfkraft nutzen. Dies ist sicherlich Folge der taktischen Schwäche der russischen Armee, womöglich aber auch ein Zeichen dafür, dass Wladimir Putin keinen Sinn darin sieht, diesen Krieg auf die Nato-Staaten auszuweiten.“
Totale Konfrontation
Als Warnschuss angesichts der finnischen Nato-Bestrebungen interpretiert der Analyst Cristian Unteanu die Rede in Adevărul:
„Wenn die Ukraine als so ernste Bedrohung für die nationale Sicherheit Russlands gesehen wird, wie wird der Kreml erst das Vorgehen dieses skandinavischen Landes bewerten (und wahrscheinlich auch das Schwedens), das die Machtbalance im Ostseeraum völlig verändert und die Stärke der russischen Flotte in der Region und in Kaliningrad enorm schmälert? Ist Putin bereit, die totale Konfrontation mit dem Westen zu suchen, dem er gerade zeigt, wie sehr er ihn verachtet? Ich denke ja: Der verschärfte Ton der offensiven Botschaft betrifft jetzt nicht mehr nur die Ukraine und lässt nur wenige oder gar keine Chancen auf baldige Friedensverhandlungen.“
Gehirnwäsche von ganz oben
Die in Russland blockierte The New Times sieht die Argumentation als Beispiel dafür, wie der russische Präsident sein Volk an der Nase herumführt:
„Putin therapiert mit Hass und betäubt mit Absurditäten. Das Ergebnis ist eine psychopathische Nation, die dafür aber konsolidiert um den Kommandanten der belagerten Festung steht, der man ohnehin nicht entfliehen kann. ... Er möchte alle Bürger Russlands mit der Unterstützung der 'Spezialoperation' beflecken, so dass sie mit der Staatsmacht in der Verantwortung für das Geschehen in der Ukraine stehen. Der Bürger ist desorientiert, er hat keine eigene Meinung, weshalb es ihm leichtfällt, als eigene Meinung jene plumpen Klischees anzunehmen, die ihm die Propaganda und Putin reichen.“
Auch plumpe Propaganda zeigt ihre Wirkung
Obwohl die Rhetorik noch so realitätsfern erscheinen mag, werden viele den Lügen glauben, fürchtet Deník:
„Putins Erzählung mag für einen gebildeten Einwohner eines freien Landes gleichermaßen lächerlich wie widerlich erscheinen. Aber dennoch kann man ihr erliegen. Wir müssen uns gar nicht bis zum Dritten Reich zurückerinnern. Man denke nur an das Gerede über die angeblich nicht existierende Corona-Krankheit oder daran, dass den Menschen mit einer Impfung Chips eingepflanzt werden. Viele im Westen glaubten das auch.“
Glaubt er, was er da sagt?
Õhtuleht fragt sich, wie verblendet der russische Präsident ist:
„Putins Rede war voller Klischees und Anschuldigungen, dass niemand die russische Seele verstehe und die Russen allein gegen den barbarischen Westen kämpfen müssten, um die Menschheit vor dem Untergang zu retten. Und dies täten sie heldenhaft, ohne mit dem eigenen Wohlergehen zu rechnen. Kann Putin wirklich selbst glauben, dass er der Retter der Welt ist?“