Odessa beschossen: Was wird aus dem Getreide-Deal?
Erst am Freitag hatten Vertreter aus Russland und der Ukraine mit Uno-Generalsekretär Guterres und dem türkischen Präsidenten Erdoğan in Istanbul eine Vereinbarung zum Export von blockiertem Getreide aus ukrainischen Häfen getroffen. Am Samstag schlugen russische Raketen im Hafen von Odessa ein. Laut Moskau galten sie militärischer Infrastruktur, laut Kyjiw wurden zivile Hafenanlagen getroffen. Kommentatoren sind ernüchtert.
Lebensmittelversorgung in ständiger Gefahr
El Periódico de Catalunya beklagt die internationale Hilflosigkeit:
„Die Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft, die Einhaltung von Vereinbarungen durchzusetzen, lässt ein Anwachsen der sozialen Not in Gegenden befürchten, die nicht über die Mittel verfügen, die Folgen des Krieges abzumildern. Das ist beunruhigend. ... Selbst wenn die ersten Getreideschiffe nach der Bombardierung des Hafens von Odessa in See stechen, bleibt die Angst, dass die Getreideausfuhr in jedem Moment wieder aus irgendwelchen Gründen gestoppt werden könnte. Mit anderen Worten: Die Versorgung mit Lebensmitteln von Dutzenden Millionen von Menschen steht auf dem Spiel.“
Eigentlich profitiert Russland von dem Deal
Dass Moskau durchaus ein Interesse daran hat, sich an die Abmachungen zu halten, betont Le Monde:
„Das Abkommen ermöglicht Russland, die gegen die eigenen Exporte erhobenen Sanktionen des Westens zu lockern. Vor allem aber trägt es zu Moskaus Propagandaerzählung bei, dass Russland nicht schuld ist an den Versorgungsschwierigkeiten in afrikanischen und asiatischen Ländern, die sich bislang nicht auf die Seite des Westens stellen wollten. ... Dass ein Sprecher der Vereinten Nationen den russischen Raketenbeschuss sofort verurteilt hat, macht deutlich, dass Wladimir Putin die Spannungen nicht nach Belieben aufrechterhalten kann, ohne die Umsetzung des Abkommens zu gefährden.“
Zynisches Spiel bleibt folgenlos
Frieden mit Russland durch Verhandlungen ist offensichtlich ein Irrweg, schreibt die taz:
„Russlands Regierung setzt einzig auf Unterwerfung durch Gewalt. Der Beschuss von Odessa ist eine Machtdemonstration. Die Botschaft: Denkt bloß nicht, ihr hättet unsere Hände gebunden, nur weil wir etwas unterschreiben. ... Keine Vereinbarung mit dem aktuellen Regime in Moskau ist belastbar. Russlands zynisches Spiel ist bekannt aus den Kriegen in Syrien und dem Donbass 2014/15: Auf eine diplomatische Zusage Moskaus folgt unmittelbar eine militärische Demonstration des Gegenteils, wohl wissend, dass das folgenlos bleibt – die Gegenseite will ja Frieden.“
Realität endlich anerkennen
Russlands Unberechenbarkeit hat System, erklärt auch La Stampa:
„Das russische Pendeln zwischen Weltuntergangsbeschuldigungen und Opferrolle, zwischen schwülstigen Erzählungen über die rosigen Aussichten der russischen Wirtschaft und den 'kolossalen' Schäden der westlichen Sanktionen, zwischen Rechtfertigungen der Invasion im Lichte der Nato-Bedrohung und Eingestehen des imperialen Restaurationsprojekts und nun zwischen unterzeichneten Abkommen und bewaffneten Angriffen, die das mühsam auf diplomatischem Wege erreichte Ziel zur Makulatur machen - all das gehört zur inzwischen vorhersehbaren Unberechenbarkeit der Kreml-Strategie. Die Augen vor dieser Realität zu verschließen, ist nicht nur naiv, sondern auch unverantwortlich.“
Kriegslogistik getrennt abwickeln
Der in Odessa lebende linke Blogger Wyacheslaw Asarow meint auf seiner Facebook-Seite, dass die Ukraine mit den Angriffen hätte rechnen müssen:
„Kürzlich habe ich geschrieben, dass für ein reibungsloses Funktionieren des 'Getreidekorridors' das Gebiet von Odessa aus der Logistik der militärischen Hilfslieferungen herausgenommen werden muss, da es sonst weiterhin angegriffen wird und Lebensmittelexporte unmöglich werden. Offensichtlich wurde dieses Problem nicht beseitigt, sondern man hat vielleicht im Gegenteil unter dem Deckmantel eines Getreidevertrags weitere Waffen geliefert. Somit stehen uns weitere Angriffe ins Haus - bis das Problem gelöst ist.“
Russland zum Frieden zwingen
Der Beschuss zeigt, dass gegen den Kriegsherrn Putin nur klare militärische Erfolge helfen, betont die Tageszeitung Kurier:
„Mit Putin lässt sich nicht so einfach Frieden schließen. ... Derzeit also gibt es nur eine Botschaft, die auf jeden Fall im Kreml ankommt: anhaltender militärischer Druck durch moderne westliche Waffen. Erst wenn Russlands Angriffskrieg hoffnungslos festgefahren ist, wird sich Putin auf der diplomatischen Bühne wirklich bewegen.“