Frachter "Razoni": Durchbruch für Getreideexport?
Erstmals seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine hat ein Getreidefrachter den Hafen Odessa verlassen. Die mit 26.000 Tonnen Mais beladene "Razoni" lief am Montag in Richtung Libanon aus. Ob das der Durchbruch ist für den Export der rund 20 Millionen Tonnen gelagerten Getreides, bleibt ungewiss, meinen Kommentatoren. Und sie schauen kritisch darauf, wer sich die Medaillen für den Erfolg anheftet.
Finger immer noch am Abzug
Zum Aufatmen ist es zu früh, meint The Times:
„Indem er zulässt, dass ein Rinnsal von Weizen und Mais die ukrainischen Häfen verlassen kann, setzt Putin zynischerweise darauf, dass er auf der Südhalbkugel als Retter angesehen wird. Er rechnet außerdem damit, dass die Export-Sanktionen gegen russische Düngemittel gelockert werden und dass die Ukraine gezwungenermaßen die Position ihrer Seeminen entlang der Küste offenlegt. ... Es wäre leichtsinnig, darauf zu zählen, dass Putin Abstand von seinen Kriegsziele genommen hat. ... Putins Finger ist immer noch am Abzug.“
Bislang eher eine Image-Kampagne
Russland war zu diesem Zugeständnis gezwungen, meint die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Hätte sich Moskau einer Regelung für den Getreideexport verweigert, wäre es sogar für die kreative russische Propaganda schwer geworden, die globalen Engpässe bei der Nahrungsmittelversorgung weiter dem Westen in die Schuhe zu schieben. Dieser muss damit leben, dass diese Lüge im 'globalen Süden' durchaus auf fruchtbaren Boden fällt. Beim Getreide gilt aber das Gleiche wie beim Gas. Wenn Russland einen Vorwand für neue Behinderungen haben will, wird es ihn finden. Deshalb schwimmen jetzt zwar 26.000 Tonnen Mais auf dem Schwarzen Meer. Aber bis die Welt (wieder) genug Brot hat, muss noch viel passieren.“
Ein Erfolg mit vielen Gewinnern
Dass viele Seiten am Gelingen des Deals interessiert sind, beleuchtet Corriere della Sera:
„Zu den Zusagen von UN-Generalsekretär António Guterres an Putin gehört die Lockerung der Sanktionen. Kyjiw sieht in dem Abkommen ein erstes konkretes Zeichen der Rettung für seine durch den Krieg in einen komatösen Zustand versetzte Wirtschaft: Mehr als die Hälfte des Bruttosozialprodukts hängt von Agrarexporten ab. ... Den größten Coup hat jedoch Erdoğan gelandet, der wieder in die Rolle des großen Vermittlers zwischen Moskau und dem Westen schlüpft. Er ist vollwertiges Mitglied der Nato und gleichzeitig eine überparteiische Führungspersönlichkeit, die in der Lage ist, auf Augenhöhe mit den Supermächten zu verhandeln.“
Vereint in der Freude, den Westen auszuschließen
Dass das Getreideabkommen umgesetzt wurde, liegt auch daran, dass sich Putin und Erdoğan so gut verstehen, anaylsiert France Inter:
„Die beiden Männer teilen eine autoritäre Machtvorstellung und imperialistische Ideen. Für Russland ist sein Imperium ohne die Ukraine nichts. Im Fall der Türkei ist es komplexer: In gewisser Weise glaubt Erdoğan, dass auch er mit dem türkischen Kurdistan seine Ukraine hat. ... Auch wenn sie sich in Syrien und Libyen bekämpfen, respektieren sich die beiden Männer. Sie interpretieren die Vergangenheit auf die gleiche Weise und verstehen es auch, schnelle Abkommen zu schließen, wobei sie beide eine ganz besondere Freude daran haben, den Westen auszuschließen – so wie beim russisch-ukrainischen Getreideabkommen.“
Erdoğan, der Krisenlöser
Die regierungsnahe Zeitung Daily Sabah hofft, dass der türkische Präsident sich nun den nächsten großen Konflikt vorknöpft:
„Obwohl die Getreidekrise teilweise überwunden wurde, steht ein Gas-Engpass an nächster Stelle. ... Aber kann eine politische Lösung für die bevorstehende Vorwinter-Krise gefunden werden? Wer weiß: Vielleicht wird schon wieder Erdoğan einschreiten, der seit dem Beginn der Ukraine-Krise eine Politik des Gleichgewichts verfolgt hat, anstatt eine 'Partei' darin zu sein, und daher den Getreide-Korridor vermittelt hat? Außer ihm gibt es keinen anderen Politiker, der in der Lage wäre, diese Rolle zu übernehmen.“