Dugina-Anschlag: Ist Russlands Version plausibel?
Knapp zwei Tage, nachdem die rechtsnationalistische Aktivistin Darja Dugina nahe Moskau durch eine Autobombe ums Leben kam, hat der russische Inlandsgeheimdienst FSB eine Verdächtige präsentiert: Der Anschlag auf die Tochter des Ideologen Alexander Dugin am 20. August sei von der Ukrainerin Natalja W. verübt worden, die aber direkt nach Estland geflohen sei. Europas Presse ist skeptisch.
Die Spur ist russisch
Vieles deutet auf eine Täterschaft russischer Geheimdienste hin, meint der Blogger Alexander Kowalenko in einem von Fokus übernommenen Facebook-Post:
„Ich fand die Version über eine 'ukrainische Spur' bei der Ermordung Duginas von Anfang an lächerlich. Erstens, weil bekannt ist, dass das Auto, in dem Dugina in die Luft gesprengt wurde, auf einem Parkplatz stand, der vom Föderalen Wachdienst [der u.a. für die Sicherheit des Präsidenten sorgt] bewacht wurde. Zweitens explodierte der Land Cruiser mit Dugina hundert Meter vor dem Tor einer großen FSB-Einrichtung, dem Golitsyn-Grenzschutzinstitut des russischen FSB. ... Das heißt, dass die ukrainischen Dienste ein exorbitant großes Risiko eingegangen sind, sich in der Tat auf eine unmögliche Mission eingelassen haben.“
Vorwand, Fake oder Trick
Nowaja Gaseta Ewropa sieht hinter dem Anschlag drei mögliche Motive:
„Das erste: Der Mord an Dugina ist ein 'Kirow-Mord' [der Auftakt zur Massenrepression ab 1936 unter Stalin]: ein Vorwand, um die Ukraine auszulöschen und massiven Terror gegen die Opposition zu entfesseln. ... Das zweite: mittels Fake-Terroristen die ultraimperiale Partei ausschalten, zu der Dugin gehört und die von Putin noch totaleren Krieg und Terror fordert. Das dritte: ein den üblichen Rahmen sprengendes Katz-und-Maus-Spiel von Geheimdiensten, die sich in ihrer Lieblingsbeschäftigung versteigen: Tricksereien - nun schon blutig. Alle drei Varianten schließen sich nicht gegenseitig aus, aber bei Variante Zwei und Drei nimmt die Wahrscheinlichkeit massiven Terrors als Reaktion auf den Mord drastisch ab.“
Die perfekte Erklärung
Die "Aufklärung" des Dugina-Mordes in Rekordzeit hätte man sich kaum besser ausdenken können, findet Corriere della Sera:
„Die Beschuldigung der Ukrainerin Natalja W. ist eine perfekte Kombination. Sie vereint den Feind der Stunde, die mögliche Vertuschung im Ausland mit der Flucht der 'Schuldigen' nach Estland, den ukrainischen Geheimdienst, den Vorwand für eine Reaktion. ... Die Tatsache, dass sich die Frau jetzt außerhalb der Grenzen befindet, erübrigt einen Prozess. Nicht, dass dies ein Problem wäre, aber auf diese Weise kann die Anklage zu einem Druckmittel gegenüber Estland werden. All dies, um die Peinlichkeit eines harten Schlags auf die Sicherheit mit einem Satz zu überwinden.“
Unvoreingenommene Untersuchung nötig
Nesawissimaja Gaseta fürchtet, dass die schnell präsentierte Version echte Ermittlungen vernebelt:
„Bei Ermittlungen sollte es keine vorgegebenen gewünschten Orientierungspunkte geben. Sie müssen Qualität haben, unvoreingenommen sein und ihre Schlüsse überzeugend. ... Wenn die Ermittler sofort eine Arbeitshypothese und ein Motiv haben, ist es schwer nachvollziehbar, warum das Opfer nicht vorab gewarnt und beschützt wurde und die Schritte der Täter nicht vorausberechnet. Die ukrainische Spur entlässt niemanden aus der Verantwortung und beruhigt nicht im Geringsten die Bürger, die sehen, dass selbst unter rigiden Maßnahmen ihre Sicherheit nicht gewährleistet ist.“
Praktischer Vorwand
Das Attentat kommt der russischen Regierung gelegen, glaubt Wprost:
„Wie erwartet machte der Kreml die ukrainischen Geheimdienste für den Mord an Darja Dugina verantwortlich. Eine andere in Russland kursierende Version spricht von einer Aktion eines bewaffneten Untergrunds, der gegen die Regierung kämpft. Beide Varianten haben den Vorteil, dass sie dem Regime freie Hand lassen, offen Jagd auf innere Feinde zu machen, die die Einheit Russlands stören. Das ist sehr wichtig in einer Zeit, in der russische Urlauber auf der Krim in Panik vor dem ukrainischen Bombardement von Militärbasen der Russischen Föderation in ihre Heimat fliehen und Hiobsbotschaften nach Hause bringen, die im Fernsehen des Regimes nicht gezeigt werden.“
Erinnerung an die 1990er
Der Krieg hat die russische Hauptstadt erreicht, schreibt die Süddeutsche Zeitung:
„Dass nun wieder eine Zeit anbrechen könnte, in der Anschläge zu einem Gewaltmittel in den russischen Großstädten werden, ähnlich der düsteren Serie in den 1990er Jahren während der Tschetschenienkriege, dürfte man in Moskau als schreckliches Szenario sehen. Raketen auf die Grenzregion um Belgorod, brennende Depots im Touristen-Hotspot Krim, eine Autobombe gegen die Kriegsbefürworterin Darja Dugina, all dies könnte die russische Gesellschaft aufschrecken und erkennen lassen, dass der Krieg näher rückt und auch ihr gefährlich wird. Umso deutlicher wiederum wird die russische Führung nun versuchen, die Bevölkerung hinter sich zu scharen.“
Bombenleger mit langer Tradition
Auch der Historiker Marius Oprea, der in Mediafax schreibt, fühlt sich an die Aktionen der russischen Unterwelt der 1990er Jahre erinnert:
„Zumindest in der Zeit von Jelzin waren diese 'Sprengfallen' eine wahre Tradition, um 'Konten zu begleichen' zwischen Oligarchen, Politikern, dem organisierten Verbrechen. ... Diese echten paramilitärischen Truppen des organisierten Verbrechens bestanden wiederum aus Veteranen, die entweder vor langer Zeit im Afghanistan-Konflikt dabei waren oder in den jüngeren Tschetschenien-Kriegen. Die Anbringung einer Bombe in einem auf einem Parkplatz abgestellten Auto ist für sie ein Routinejob. ... Wer immer dieses Verbrechen begangen hat, mir ist klar, dass er aus dieser Welt kommen muss.“
Kein zufälliges Opfer
Polityka beleuchtet die Hintergründe von Darja Dugina:
„Dugin sollte höchstwahrscheinlich bei dem Anschlag ebenfalls getötet werden. ... Darja Platonowa Dugina war aber kein zufälliges Opfer. ... Schon in ihrer frühen Jugend war sie in von ihrem Vater geleiteten Organisationen aktiv. ... Im Laufe der Zeit begann sie, für die von ihm gegründete Denkfabrik Katehon und deren Website Geopolitika.ru zu schreiben und war Korrespondentin und regelmäßige Kommentatorin für das von Dugin geleitete Zargrad TV. Erst vor Kurzem machte sie ein Selfie in den Ruinen des Asowstal-Werks in Mariupol. ... An dem Abend, an dem sie getötet wurde, war sie mit ihrem Vater auf dem Rückweg von einer rechtsextremen Kundgebung in der Nähe von Moskau.“
Aktion der russischen Geheimdienste
Dugina war eine eher unwichtige Vertreterin der russischen Propaganda, meint der Journalist Serhij Wysozkij im Fokus.ua :
„Vorrangige Ziele unter den Bedingungen eines Krieges sind Objekte, deren Beseitigung den Feind schwächen. Das sind hochrangige GRU-FSB-Offiziere, die für die 'Spezialoperation' verantwortlich sind, Chefs von Rüstungsunternehmen, Wissenschaftler, die Verteidigungsprogramme umsetzen, Geschäftsleute und Geheimdienstmitarbeiter. … Ich habe den Verdacht, dass der Anschlag auf ein Auto in der Nähe von Moskau eine Aktion russischer Geheimdienste ist, die auf die Mobilisierung der eigenen Bevölkerung und eine Diskreditierung der Ukraine in den Augen der westlichen Partner abzielt.“
Auftakt zu einer neuen Phase des Kriegs
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hält es ebenfalls für denkbar, dass der Hintergrund der Tat ein russischer ist:
„Die Gewalttätigkeit der russischen Elite hat sich immer auch nach innen gerichtet. Angesichts der verqueren Theorien der russischen Propaganda, die nach jedem Attentat auf Kremlgegner behauptet, dahinter stünden Feinde Russlands, die damit den Kreml diskreditieren wollten, ist es durchaus vorstellbar, dass es sich bei dem Anschlag um den Auftakt zu einer neuen Phase des Kriegs gegen die Ukraine handeln könnte. Schon rufen führende russische Propagandisten danach, als Antwort nun die 'Entscheidungszentren' anzugreifen.“
Putins Umfeld ist nicht mehr sicher
Der Nawalny-Mitstreiter Leonid Wolkow sieht auf Facebook ein Menetekel für Putins engere Umgebung:
„Die nächtliche Explosion verschreckt sehr viele echte Ideologen von Krieg und Putin-Faschismus. Zwar ist an diese bedeutend schwerer heranzukommen als an Dugin, der ohne Leibwache über zweitrangige Folk-Festivals tingelt, aber für sie wird es jetzt ungemütlich. ... Es geschah im Kreis Odinzowo nahe Moskau, direkt im Unterbauch des Putinismus - und selbst da operieren offenbar ukrainische oder Nato-Saboteure mit ferngezündeten Bomben? Hm... Dies als Terrorakt anzuerkennen ist ein ernstes Problem für den FSB, der schon gegen die Epidemie des unvorsichtigen Rauchens auf der Krim machtlos ist.“
Die schlafenden Monster werden aufwachen
Ganz gleich, wer ihn verübt hat, der Anschlag wird den Krieg in der Ukraine weiter anheizen, glaubt Schriftsteller Vasile Ernu in Libertatea:
„Ein Terrorakt ist eine verzweifelte und radikale Form, Politik mit anderen Mitteln zu machen: mit Gewalt. Ich fürchte, dieser Akt wird den Krieg beschleunigen, jedoch nicht in eine gute Richtung, denn er kann die schlafenden Monster unterm Kreml in Moskau, aber auch in Kyjiw, Washington, London, Berlin und wer weiß wo noch wecken. Die Geschichte zeigt uns, dass persönlicher, individueller Terror immer zu Massenterror führt - in und von allen Seiten. …. Und wir wissen auch, dass jeder Terrorakt ein Schritt hin zum Abgrund des Bürgerkrieges ist.“