Asowstal: Verbliebene ukrainische Soldaten evakuiert
Nach russischen Angaben haben die letzten ukrainischen Soldaten, die bis vergangene Woche gegen die endgültige Einnahme der strategisch wichtigen Hafenstadt Mariupol kämpften, das Stahlwerk Asowstal verlassen. In Absprache mit der ukrainischen Militärführung, die auf einen Gefangenentausch hofft, befinden sie sich in russischen Händen. Russische Exilmedien erörtern, was mit ihnen geschehen wird.
Russland übertreibt die Zahl der Gefangenen
Die Ukraine-Korrespondentin der Nowaja Gaseta Ewropa Olga Musafirowa verweist darauf, dass nicht einmal klar ist, um wieviele Überlebende es sich handelt:
„Die russische Seite spricht von 2.439 Kriegsgefangenen, das Internationale Rote Kreuz, unter dessen Ägide der Prozess ablief, nur von 'hunderten' registrierten ukrainischen Kämpfern. Das Institute for the Study of War vermutet, dass die Russen bewusst die Zahlen überhöhen, damit sie im Austausch möglichst viele eigene Gefangenen bekommen und nicht das Gesicht verlieren, wenn man eingestehen müsste: Es war nur ein Häufchen Kämpfer, das 17 taktischen Bataillonsgruppen fast drei Monate lang widerstand. Nun steht eine weitere Schlacht um das Schicksal der Kriegsgefangenen von Asow bevor.“
Der Kreml will Todesurteile gegen "Nazis"
The New Times rechnet mit Schauprozessen:
„Es wird Verfahren auf dem Gebiet der DNR [Separatisten-Republik Donezk] geben, da dies [aus russischer Sicht] formell ein unabhängiger Staat ist und das russische Moratorium auf die Todesstrafe dort nicht gilt. Russland wird der Welt irgendwelche Belege für ukrainische Kriegsverbrechen präsentieren. Und wenn dann in diesen Prozessen die sogenannten Nazis des Regiments Asow Todesurteile erhalten, wird Putin sein einzigartiges Erbarmen zeigen und jemanden zwecks Austausch begnadigen. Manche werden vielleicht schon jetzt im Stillen ausgetauscht, aber einem Teil wird ein Schauprozess gemacht, denn sonst wäre es sinnlos gewesen, das Asowstal zum Symbol des globalen Nazismus zu erheben und dieses Thema so energisch auszuquetschen, wie es der Kreml getan hat.“
Ein Sieg für Moskau - aber kein Ende des Krieges
Die Soldaten können kaum auf Gnade von Russland hoffen, fürchtet De Telegraaf:
„Der Kreml erklärte zwar schnell, dass man die Soldaten 'human' behandeln werde. ... Doch wer das platt bombardierte Mariupol sieht und den Haufen Schrott, zu dem die mächtige Stahlfabrik wurde, hat wenig Hoffnung, dass sich die Russen, die in der Hafenstadt in großem Stil Menschenrechte verletzt haben sollen, an die Absprachen halten werden. ... Der späte Fall von Mariupol ist ein Boost für Moskau, aber Kyjiw schöpft auch Hoffnung, weil es bei Charkiw Gebiete zurückerobert hat. Das blutige Kapitel Mariupol ist abgeschlossen, aber das Buch 'Überfall auf die Ukraine' ist noch nicht zu Ende.“
Jetzt bitte realistisch werden und verhandeln
El Periódico de Catalunya findet, dass sich im Gesamtbild nichts Grundlegendes geändert hat:
„Russland hat zwar die Kontrolle über die Küste des Asowschen Meeres erlangt, das sollte beide Seiten aber nicht daran hindern, Realismus walten zu lassen und Verhandlungen in Gang zu setzen. ... Der Westen darf jetzt nicht die Augen verschließen. Er muss einsehen, dass die enorme Hilfe zwar Wirkung zeigt, es aber keine Anzeichen für eine Niederlage Russlands gibt. ... Emmanuel Macron hat gesagt, dass die ukrainische Regierung vielleicht darüber nachdenken sollte, welche territorialen Zugeständnisse sie zu akzeptieren bereit ist. Damit zieht er nur logische Schlussfolgerungen aus den objektiven Fakten der Krise.“
Asows Kampfgeist für alle ukrainischen Soldaten!
Jurij Butusow, Chefredakteur von Censor.net, wünscht sich in Gordonua.com die Asow-Kampftruppe, bisher der Nationalgarde unterstellt, als Speerspitze der ukrainischen Armee:
„Ich glaube, dass nun auf Beschluss der militärischen Führung als Teil der ukrainischen Streitkräfte eine Asow-Sturmbrigade geschaffen werden sollte, um ihre großen Verdienste für das ukrainische Volk zu würdigen. All die Prinzipien, auf denen die phänomenale Kampfeffizienz von Asow beruht - die nationalistische Ideologie und die Vorstellungen der OUN [Organisation ukrainischer Nationalisten], das Nato-System der Befehlsgewalt und des Kampfeinsatzes, die Unteroffiziersschule, die Offizierslehrgänge, die hohe Motivation und Initiative der Kämpfer - all dies könnte in der Armee organisiert werden, um unseren Sieg näher zu bringen.“
Ein Stoff für Hollywood
Für die Tageszeitung Die Welt sind die Verteidiger von Mariupol Helden:
„Viele haben ihr Leben geopfert in ihrem bewundernswerten Widerstand gegen die russische Übermacht. Und selbst als längst klar war, dass sie diesen Kampf auf lange Sicht nur verlieren konnten, haben sie daran festgehalten. Wenn es schon nicht mehr aussichtsreich schien, die Stadt vor der Übernahme durch Russland zu retten, so wollten sie wenigstens russische Kräfte in Mariupol binden, um es der Ukraine zu ermöglichen, die Front an anderen Stellen gegen die neue Offensive Moskaus im Osten zu halten. Die Abwehrschlacht von Mariupol ist ein Stoff, aus dem Bestseller und Hollywood-Filme entstehen.“
Neue Helden helfen polnisch-ukrainischer Versöhnung
Gazeta Wyborcza hofft, dass dem polnisch-ukrainischen Streit um die historische Bewertung ukrainischer Nationalhelden nun der Boden entzogen wird:
„Im Laufe der Jahre haben wir in unseren Diskussionen mit den Ukrainern immer wieder gefragt, warum sie sich auf Helden des Zweiten Weltkriegs wie Stepan Bandera oder General Roman Schuchewytsch berufen. Schuchewytsch war tatsächlich Täter des Massakers in Wolhynien [ethnische Säuberungen der ukrainischen UPA-Partisanen unter der polnischen Zivilbevölkerung]. ... Die Ukrainer antworteten uns, dass sie außer Bandera und Schuchewytsch keine anderen historischen Helden haben. Heute hat die Ukraine neue Nationalhelden. Seit 2014 die Verteidiger des Donezker Flughafens oder die Pilotin Nadija Sawtschenko. ... Und jetzt die Verteidiger von Asowstal, einschließlich der Soldaten des Regiments Asow.“