Kann Truss Großbritannien durch die Krise führen?
Nach ihrem klaren Sieg bei der Stichwahl gegen Rishi Sunak hat Liz Truss am Dienstag ihr neues Amt als britische Regierungschefin aufgenommen. In ihrer Antrittsrede zollte sie Vorgänger Boris Johnson Respekt. Anschließend gab sie die Mitglieder des neuen Kabinetts bekannt. Ob ein Neubeginn gelingen kann, beurteilt Europas Presse sehr unterschiedlich.
Es weht ein frischer Wind
Die neue Chefin hat mit ihrem Kabinett und ihrer Antrittsrede bewiesen, dass sie gleich die Ärmel hochkrempelt, lobt The Daily Telegraph:
„Ihr Auftreten war forsch und sachlich und damit ein Vorbote dafür, wie sie sich die Vorgehensweise ihrer Regierung vorstellt. Schon vergangene Nacht wurde mit der Räumung des alten Personals aus Downing Street begonnen. ... Der bemerkenswerteste Aspekt ihres Kabinetts ist die Zusammensetzung: Kein einziger weißer Mann bekleidet eines der wichtigsten Staatsämter. ... Die Konservativen haben ihre dritte weibliche Vorsitzende gewählt, die das ethnisch vielfältigste Ministerteam der Geschichte leiten wird – das Kabinett straft damit die uralten Labour-Vorwürfe Lügen, die die Tories als borniert und engstirnig karikieren.“
Als ob nichts geschehen wäre
Neustart geht anders, ärgert sich dagegen The Independent:
„Truss widmete den Großteil ihrer kurzen Siegesrede ihrem Vorgänger den sie für all die großartigen Dinge lobte, die er angeblich erreicht hat. In 10 Downing Street [bei ihrer Antrittsrede] tat sie das wieder. ... Nichts hat sich verändert. Was ist der Sinn dieser neuen Regierung? Es sind alle, wirklich alle Johnson-Loyalisten. Sie sind am glücklichsten, wenn sie öffentlich ihre unerschütterliche Loyalität beweisen und so tun können, als wäre nichts Schlimmes vorgefallen. Solange die Konservative Partei nicht den Mut findet, offen zu erklären, dass ihr letzter Vorsitzender durch und durch ein Lügner war, ist nicht klar, mit welchem Recht von uns allen erwartet wird, dass wir nach vorne schauen.“
Abschreckung für neu gewonnene Wähler
Die Premierministerin könnte die von Johnson eroberten eher linkskonservativen Wähler vergraulen, analysiert Politologe Brett Meyer in Le Monde:
„In ihrem Wahlkampf hat sie Steuersenkungen zur Ankurbelung des Wirtschaftswachstums versprochen. Dieses zentrale Versprechen hat ihr zum Sieg bei der Abstimmung der Konservativen verholfen. Es steht aber im Kontrast zur Politik ihres Vorgängers Boris Johnson, der sich bemühte, staatliche Hilfen für die schwachen Regionen des Landes aufzustocken. Zudem ist Liz Truss' Strategie nicht ohne Risiken. Sie könnte insbesondere die kulturell rechts, aber wirtschaftlich links orientierten Wähler anwidern. Doch vor allem dank ihnen gewannen die Tories bei der Parlamentswahl 2019 eine Mehrheit mit einem Vorsprung von 80 Sitzen im Unterhaus.“
Riskante Wette
Es geht jetzt ums Ganze, betont der Politologe Matt Goodwin in El País:
„In den Umfragen ist die Konservative Partei auf direktem Weg in den Untergang. ... Es ist klar, dass die Wähler die Regierungspartei dafür bestrafen, dass sie sich in einen Führungswettstreit stürzt, während gleichzeitig die Energierechnungen der Bürger und die Inflation in die Höhe schießen. ... [Truss] will mit Steuersenkungen und einer Rückkehr zur klassischen konservativen Steuerpolitik Großbritannien aus der Krise helfen und das Geschick ihrer Partei wenden. ... Führende Wirtschaftsexperten denken jedoch, dass ihre Pläne die Inflation nur anheizen werden. Truss setzt darauf, dass sie ihre Wette gewinnt. Tut sie es nicht, werden sowohl ihre Partei als auch das Land in ernste Schwierigkeiten geraten.“
Truss muss sich freischwimmen
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung vermutet, dass Johnson längerfristig wieder in die ersten Reihen zurückkehren möchte:
„Aber was soll ein ehemaliger Regierungschef in einer Monarchie noch werden wollen, in der es das repräsentative Amt eines Staatspräsidenten nicht gibt? Im Grunde bleibt nur die Option einer Rückkehr in die Downing Street nach einer angemessen langen 'Abkühlungsfrist'. Die Nachfolgerin, die sich noch im Wahlkampf um die Parteiführung in unerschütterlicher Loyalität zu Johnson präsentierte, sollte sich so schnell wie möglich von ihm freischwimmen – im Interesse ihres Amtes und im Interesse ihrer Partei. Eine Premierministerin auf Abruf wäre für die Wahl 2024 eine Steilvorlage für die Labour Party.“
Sie steht vor einer Mammutaufgabe
Der neuen Regierungschefin bleibt kaum Zeit für eine Siegesfeier, glaubt The Times:
„Liz Truss wird schnell danach beurteilt werden, wie sie auf die aktuelle Krise des Lebensstandards reagieren wird. Die neue Premierministerin hat versprochen, innerhalb einer Woche einen Plan vorzustellen, und der steile Kostenanstieg sollte sie von der Gefahr einer zu laschen Reaktion überzeugen. Sie muss Mut beweisen und sich gleichzeitig bewusst sein, dass es viele schlechte Mittel gegen die Krise gibt und kein Allheilmittel. ... Einen solchen nationalen Notstand darf man nicht dem Zufall überlassen. Staatliche Eingriffe sind notwendig. ... Es wird der erste große Test für Liz Truss sein. Wie sie ihn besteht, könnte ihre Amtszeit bestimmen.“
Brüssel bleibt Feind
Es ist unwahrscheinlich, dass die Neue bessere Beziehungen zur EU anstrebt, meint Irish Independent:
„Vor die Wahl gestellt, pragmatisch mit der Europäischen Union zu verhandeln oder die europafeindliche Rechte in ihrer Konservativen Partei zu umgarnen, wird sie sich immer und immer wieder für Letzteres entscheiden. ... Trotz ihrer Familiengeschichte bei Labour, ihren frühen Jahren als liberaldemokratische Aktivistin und ihrer energischen Anti-Brexit-Kampagne beim Referendum 2016, ist sie plötzlich eine Hardlinerin, wenn es um den Brexit geht. Die Anti-EU-Haltung hat sie dahin gebracht, wo sie hinwollte.“
Falsche Politik für harte Zeiten
De Standaard bezweifelt, dass Liz Truss die richtige Wahl ist:
„Sie entpuppte sich als harte Brexiteer, die das Nordirland-Protokoll zum Platzen bringen will. Das würde eine Krise verursachen, die weder die EU noch Großbritannien gebrauchen können. Im Fall von Russland blamierte sie sich schon mit ihrem Mangel an Aktenkenntnis. Und im eigenen Land will sie die Krise bekämpfen mit starken Steuersenkungen, Deregulierung und einem kleineren Staat. Während die Energiekrise gerade nach mehr Regulierung schreit, nach einem stärkeren Staat und soliden öffentlichen Finanzen.“
Die Messlatte hängt niedrig
Liz Truss könnte es vielleicht schaffen, einmal in einem Atemzug mit ihrem Vorbild Margaret Thatcher genannt zu werden, glaubt Hospodářské noviny:
„Bei ähnlichen Gelegenheiten wird gern geschrieben, dass eine Randfigur, die der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt ist, nur angenehm überraschen kann. Die Erwartungen sind also sehr gering. Immerhin handelt es sich bei Truss um eine wenig bekannte Newcomerin, die über ein parteiinternes Votum Premierministerin wird. ... Zudem noch in einer Zeit, in der eine schlechte Wirtschaftsmeldung nach der anderen eintrudelt. Das erste richtige Energiegeschäft zu erzielen und Menschen und Unternehmen dabei zu helfen, die bevorstehenden schwierigen Monate zu überstehen, könnte Truss die Tür dazu öffnen, ein echter britischer Premier League-Leader zu werden. “
Positives Signal fürs Baltikum
Der Kurs der bisherigen Außenministerin stimmt den Politologen Linas Kojala auf Delfi optimistisch:
„Sie unterstützt die Verschärfung der Sanktionen gegen den Kreml und fordert andere Länder einschließlich der USA zu mehr Konsequenz auf. Zum Beispiel wiederholte die künftige Premierministerin, dass 'Putin verlieren muss', während sich Vertreter anderer westlicher Länder da ambivalenter ausdrücken. ... Solche Prioritäten senden ein positives Signal an die baltischen Staaten, die Truss zu den wichtigsten und mutigsten Verbündeten in Europa zählt. Die Erweiterung der britischen Präsenz würde den östlichen Flügel der Nato stärken, mehr als 1.500 Soldaten sind bereits in Estland stationiert.“