Was kommt nach dem ukrainischen Etappensieg?
Die erfolgreiche Gegenoffensive um Charkiw könnte ein Wendepunkt im Ukraine-Krieg gewesen sein. Während Selenskyj neue Vorstöße zur Rückeroberung besetzter Gebiete ankündigt, signalisiert Putin Verhandlungsbereitschaft. Der Kremlchef steht durch den Misserfolg seiner Armee unter Druck.
Das wahre Ende des Kalten Krieges
Rzeczpospolita schließt einen Zusammenbruch von Putins Russland nicht mehr aus:
„Sollte es tatsächlich dazu kommen, wäre dies ein großer Umbruch, das wahre Ende des Kalten Krieges. Dies mag verwundern, wenn man bedenkt, dass der Kalte Krieg nach allgemeiner Auffassung vor 30 Jahren zu Ende ging. ... In unserem Teil Europas gab es trotz der offensichtlich erfolgreichen Transformation immer ein spürbares Gefühl, wenn auch nur unterschwellig, dass der Kalte Krieg keineswegs zu Ende gegangen ist. Dieses Gefühl fanden wir zum Beispiel in dem unvollständigen Schutz der Nato-Ostflanke oder in der Ostpolitik der westlichen Länder bestätigt, vor allem in ihrer Haltung gegenüber Russland, in ihrer privilegierten Behandlung dieses Landes.“
Putin wird für die Verbrechen büßen müssen
To Vima glaubt, dass Putin in dem sich abzeichnenden Debakel nicht ungeschoren davon kommt:
„Die russische Rüstungsindustrie ist nicht in der Lage, die Verluste auszugleichen. ... Schlimmer noch, die Moral ist verloren gegangen, und die Soldaten haben das Gefühl, dass sie den ukrainischen Streitkräften als Kanonenfutter dargeboten werden. Zehntausende russische Soldaten wurden bereits getötet, die russische Armee befindet sich im Zustand des Zusammenbruchs. Vorerst verschweigt Putin die Kosten des sinnlosen Krieges, den er beschlossen hat. Doch in letzter Zeit mehren sich die kritischen Stimmen in Russland, trotz des von Putin installierten Terror- und Zensursystems. Eines Tages wird er für die Verbrechen, die er gegen sein Volk, Europa und die Welt begangen hat, zur Rechenschaft gezogen werden.“
Der Kremlchef ist angeschlagen
So geschwächt wie derzeit war Putin noch nie, meint The Irish Times:
„Putin muss sich jetzt in Acht nehmen. Solange er stark war, durfte er sich in Bezug auf die Ukraine irren. Jetzt entlarvt sich, dass er falsch lag und noch dazu schwach ist. Sein unnötiger Krieg hat sich für ihn wie ein Bumerang zu einem existenziellen Krieg entwickelt. Rechtsextreme russische Nationalisten fordern einen härteren Krieg gegen die Ukraine und die volle Mobilisierung der Bevölkerung. Russlands Oligarchen und Diplomaten wissen, dass sie schweigen müssen, um zu überleben, wünschen sich aber wohl verzweifelt Veränderung. Und diese kann plötzlich kommen. Die Sowjetunion galt als ewig, bis sie plötzlich weg war. So könnte es auch dem Putinismus ergehen.“
Ende des russischen Imperialismus
Eine Niederlage Russlands in der Ukraine könnte dem jahrhundertealten russischen Imperialismus ein Ende setzen, hofft Tygodnik Powszechny:
„Ein westlicher Publizist stellte kürzlich die These auf, dass sich Putins Schicksal in der Ukraine entscheiden wird. Das ist möglich. Vielleicht sogar noch mehr: Es kann sein, dass wir heute das endgültige Ende des russischen imperialen Projekts erleben. Dieses begann im 14. Jahrhundert, als Fürst Iwan Kalita den Grundstein für die Expansion Moskaus legte: zunächst in der historischen Rus und danach immer weiter. Auch darum geht es in diesem Krieg.“
Putin gibt nicht klein bei
Russlands Präsident wird die russischen Kriegsanstrengungen verschärfen, prognostiziert der frühere rumänische Spionagechef Cătălin Harnagea in Evenimentul Zilei:
„Der Kremlchef hat seine gesamte politische Karriere aufs Spiel gesetzt, als er den Krieg auslöste. Und es scheint wenig plausibel, dass er jetzt passiv zuschaut, wie seine Streitkräfte langsam vernichtet werden. Wie der Tschetschenien-Krieg gezeigt hat, bestehen kaum Aussichten darauf, dass Wladimir Putin untätig bleibt, wenn er einen Sieg auf dem Schlachtfeld für unbedingt nötig hält. Aus diesem Grund wird der Krieg mit Erfolgen und Niederlagen auf beiden Seiten viel mehr Opfer und Zerstörungen verursachen - bevor er zu Ende geht.“
Nicht zum Kriegstreiber werden
Im Ausland sollte man trotz der Erfolge der ukrainischen Armee nicht auf einen Sieg um jeden Preis pochen, fordert Le Point:
„Wir sollten immer bedenken, dass dieser nicht von uns geführte Krieg den Tod anderer bedeutet und bei anderen Verwüstung anrichtet. ... Zu viele Experten in unseren Fernsehstudios möchten bis zum letzten Ukrainer kämpfen. Dass die Ukraine über ausreichend Waffen zum Siegen verfügt, ist sicher richtig. Aber diese Unterstützung sollte uns nicht in realitätsferne Kriegstreiber verwandeln, die zu jeder Eskalation bereit sind, egal wie hoch der Preis für die Ukrainer ist. Wir sollten nie das Ziel aus den Augen verlieren, den Frieden wiederherzustellen. Und das setzt unweigerlich eine Art Kompromiss mit dem Aggressor voraus.“