Was sagt Europas Presse zum Lambrecht-Rücktritt?
Nach anhaltender Kritik an ihrer Amtsführung hat Verteidigungsministerin Christine Lambrecht am Montag um ihre Entlassung gebeten. Kanzler Scholz nahm das Rücktrittsgesuch an. Nachfolger soll laut ARD-Informationen der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius werden. Kommentatoren analysieren, woran Lambrecht gescheitert ist und welche Bedeutung Deutschlands Verteidigungspolitik für Europa hat.
Nicht die Richtige für das Amt
Der Rücktritt ist keine große Überraschung, meint Dnevnik:
„Sie musste wegen vieler kleiner Affären gehen, die einem erfahrenen Politiker nicht hätten passieren dürfen. ... Das Verteidigungsministerium war nicht der richtige Posten für Lambrecht. In früheren deutschen Regierungen diente sie in den Ministerien für Justiz und Familienangelegenheiten, für die sie geeigneter war. Obwohl Scholz mit ihrer Ernennung auch sein Ziel erreichte, die Ministerposten in der Regierung gleichmäßig zwischen Männern und Frauen zu verteilen, kamen von Anfang an – nicht nur in der Opposition der Christdemokraten – Zweifel an der Richtigkeit seiner Wahl auf.“
Ein zweiter Missgriff ist nicht drin
Das Verteidigungsressort ist derzeit besonders wichtig, schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Von Anfang an hatte es Zweifel gegeben, dass sie [Lambrecht] ein Amt würde ausfüllen können, das schon vor der 'Zeitenwende' sehr anspruchsvoll war. Seither aber braucht die 'blanke' Bundeswehr erst recht eine starke und von der Truppe respektierte Führung. Doch Lambrecht ... hat sich nicht die Kompetenz und die internationale Anerkennung erarbeiten können, die unerlässlich sind, wenn Deutschland ein Garant der europäischen Sicherheit sein soll, wie es der Kanzler angekündigt hat. ... Einen zweiten Missgriff kann er sich nicht leisten, nicht bei diesem Ministerium, nicht in diesen Zeiten.“
Schwierige Nachfolge
Angesichts des Krieges in der Ukraine sollte Scholz eine ausgewiesene Fachperson an die Spitze des Verteidigungsministeriums stellen, fordert Der Standard:
„Er muss jetzt einen wahren - oder besser noch eine wahre - Wunderwuzzi aus dem Hut zaubern: angesehen bei der Truppe, vertraut mit der Materie und des Führens eines äußerst schwierigen Ministeriums fähig. ... So jemanden findet er in der SPD nicht einfach. ... Als Lambrecht im Dezember 2021 Ministerin wurde, herrschte noch kein Krieg. Mittlerweile ist er bittere Realität. Für den deutschen Kanzler bedeutet das: Die Nachbesetzung im Verteidigungsministerium muss er nun schnell und vor allem mit mehr Weitblick als damals regeln.“
Verteidigungsministerin mangels Alternativen
Deutschland hat ein Problem mit seinem Verhältnis zum Militär, glaubt wPolityce:
„Der Vollständigkeit halber sollte hinzugefügt werden, dass Lambrecht gar nicht Verteidigungsministerin werden wollte. ... Aber die Personaldecke in der SPD erwies sich als sehr dünn. Jahrelang vernachlässigten die Sozialdemokraten das Thema Verteidigung aufgrund eines in Partei und Gesellschaft tief verwurzelten Pazifismus und einer drei Jahrzehnte lang praktizierten Russlandpolitik: Wenn jeder Volkswagen, der jenseits des Don exportiert wurde, eine 'Friedensdividende' einbrachte, wozu sollte dann die Bundeswehr gut sein? Deutschlands zivile und moralische Supermacht sollte die Welt durch Handel zum Besseren verändern.“
So eine Krise kann sich Europa jetzt nicht leisten
Deutschland hat jetzt eigentlich keine Zeit für Personalgeplänkel, schreibt El Mundo:
„Der Rücktritt der Verteidigungsministerin eröffnet eine ungelegene Regierungskrise mitten im Krieg in der Ukraine und nur wenige Monate, nachdem die Exekutive grünes Licht für Deutschlands historische Wiederaufrüstung als Eckpfeiler der europäischen Verteidigung gegeben hat. ... Lambrecht sollte die Reform überwachen, die jedoch nur langsam vorankommt, was sich Europa angesichts einer derartigen kriegerischen Eskalation an seinen Grenzen nicht leisten kann. ... Einen Monat vor dem ersten Jahrestag des Krieges muss Berlin sein militärisches Engagement verstärken, um die schlimmste Sicherheitskrise in Europa seit 1945 zu überwinden. Es geht um die Verteidigung der liberalen Demokratie.“