Nordirland-Protokoll: Brexit-Zankapfel vom Tisch?
Nach dreijährigem Hin und Her haben Großbritannien und die EU beim Nordirland-Protokoll eine Einigung erzielt. Die bisherigen Regeln erschweren den Handel zwischen Großbritannien und Nordirland, das de facto weiter Teil des EU-Markts ist. Künftig sollen Zollauflagen nur noch für Waren gelten, die für die Republik Irland bestimmt sind. Europas Presse bewertet den Kompromiss mehrheitlich positiv.
Abkehr von der Isolationspolitik
Das neue Abkommen bringt die Wende nach dem langen Brexit-Patt, meint Dagens Nyheter:
„Eine gute Beziehung liegt auch im wirtschaftlichen Interesse der Union. Darüber hinaus ist das Vereinigte Königreich neben Frankreich bis heute die einzige wirkliche Militärmacht in Europa. Russlands brutaler Krieg gegen die Ukraine hat deutlich gemacht, wie sehr die Sicherheitspolitik vom Zusammenhalt der Nato abhängt, und die Briten sind ein unverzichtbarer Bestandteil. Die Einigung vom Montagabend stellt einen Wendepunkt dar. Zuvor hatten sich die Briten immer weiter von Europa entfernt. Jetzt sind wieder engere Beziehungen möglich.“
DUP sollte einlenken
Das Zögern der nordirischen Democratic Unionist Party, das Windsor-Abkommen zu stützen, ist charakteristisch, meint Financial Times:
„Ihre Herangehensweise war schon immer die des zweifelnden Skeptikers, der jede Vereinbarung doppelt überprüft, um zu sehen, ob betrogen wird. Aber sie sollte sich nicht in den Details verzetteln. ... Was das Abkommen nicht liefert und auch nie liefern wird, ist die vollständige Aufhebung der Grenze. Irgendwo muss es eine Grenze geben. Und die Unionisten haben keinen alternativen Vorschlag, wo diese verlaufen sollte. Deshalb täten sie gut daran, das Abkommen zu akzeptieren.“
Geschenk aus Brüssel
Die Einigung ist nicht nur Rishi Sunaks Pragmatismus zu verdanken, betont De Standaard:
„Er will Brücken bauen und Lösungen suchen. Dabei kam ihm die EU entgegen. Die europäischen Führer sehen inzwischen auch ein, dass es jetzt größere Sorgen gibt als ein mögliches Loch im vereinigten Markt. Das Abkommen wurde geschlossen vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine, ein Konflikt, in dem die Briten bei der Militärhilfe führend sind. Das wird in Europa geschätzt. ... Die EU gab Sunak jetzt eine Einigung, mit der er Johnson das Maul stopfen kann. Sogar harte Brexiteers in der Partei müssen anerkennen, dass diese Einigung weiter geht, als sie je zu träumen wagten.“
Absurdität des Brexit entlarvt
Die Art, wie der britische Premier den Deal bewirbt, findet Večernji list grotesk:
„Die Absurdität des Brexits kam wieder zum Vorschein, als Premierminister Sunak als kräftigstes Argument für das neue Abkommen erwähnte, dass Nordirland in einer 'unglaublich speziellen Position' sein wird, da es 'privilegierten Zugang nicht nur zum einheimischen, sondern auch zum einheitlichen Markt der EU haben wird'. Das Absurde ist, dass das gesamte Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland sich in dieser 'unglaublich speziellen Position' befand, bis zum Moment, in dem die Konservative Partei, der auch Sunak angehört, das Referendum startete und den Brexit durchführte.“
Guter Kompromiss
La Stampa erläutert lobend die Kernpunkte des Abkommens:
„Die Angleichung Nordirlands an die Zollunion wird beibehalten, die internen Schranken werden jedoch durch ein zweistufiges System beseitigt: Waren, die durch bewährte Händler von Großbritannien nach Nordirland versandt werden, werden auf der grünen Spur ohne Kontrollen befördert; Waren, die für die Republik Irland und damit für den EU-Markt bestimmt sind, werden auf der roten Spur befördert und unterliegen Kontrollen und Zollschranken. ... Sunak scheint auch ein Zugeständnis in Bezug auf die Rolle des Europäischen Gerichtshofs erreicht zu haben, der bei den Euroskeptikern unbeliebt ist. Belfast kann gegen die Anwendung von Vorschriften in Ulster Einspruch erheben und einen Konsultationsmechanismus in Gang setzen.“
Einfluss der EU nicht gebannt
Aus britischer Sicht bleiben große Probleme weiter bestehen, klagt The Daily Telegraph:
„Der Europäische Gerichtshof ist der ultimative Hüter des EU-Rechts und hat seine Position schamlos genutzt, um die zentralisierende Agenda der Eurokraten voranzutreiben. Sein unheilvoller Einfluss ist in Nordirland weiter gegeben. Das Protokoll schafft auch für den Rest des Vereinigten Königreichs Probleme. Es dürfte nun als Begründung gegen eine Abweichung von EU-Vorschriften angeführt werden, weil sonst die Gefahr besteht, dass eine noch größere regulatorische Barriere zwischen zwei Teilen des Vereinigten Königreichs entsteht.“
Mutiger Pragmatismus
Der britische Premier löst Probleme, statt sie zu kultivieren, lobt die Neue Zürcher Zeitung:
„Für Rishi Sunak könnte dieser Tag über seine politische Zukunft entscheiden. Er hätte die Nordirland-Frage auf die lange Bank schieben und der direkten Konfrontation mit Johnsons Entourage aus dem Weg gehen können. Doch er hat sich für eine Lösung des Problems entschieden und damit den schwelenden Machtkampf in der Partei offen ausbrechen lassen. Das braucht Mut, in der Partei wird sein Leben nicht angenehmer werden. Doch er wird in der Bevölkerung, sofern sie sich überhaupt für die Nordirland-Frage interessiert, an Respekt gewinnen. Das ist eine Ressource, welche Regierung und Partei nach den Eskapaden des letzten Jahres gut gebrauchen können.“
Endlich wird dieses Scharmützel beendet
Auch ABC findet das Abkommen gelungen:
„Der neue Pakt ist für Rishi Sunak flexibel genug, so dass er das Gesicht gegenüber den Briten wahren kann, auch wenn die Hardliner in seiner Partei ihm wahrscheinlich keine Kritik ersparen werden. ... Seitens von der Leyen beenden die Zugeständnisse die bissige Hetzjagd, die sich die EU - unter Macrons Anfeuerung - mit Johnson geliefert hat. Das ist vernünftig, denn der Krieg in der Ukraine hat viele Fronten mit ungewissem Ausgang eröffnet.“
Persönlicher Triumph für Sunak
Das Windsor-Abkommen ist auch eine Abrechnung mit Boris Johnson, analysiert De Volkskrant:
„Großbritannien brauchte einen Premier, der keine Scheu vor Akten hat, der keine Unruhe in Brüssel verursacht, der das Landesinteresse über persönlichen Ehrgeiz stellt, etwas von Wirtschaft versteht und gesegnet ist mit einer starken Portion Pragmatismus. Als so ein Führer entpuppte sich Rishi Sunak nun. ... Für Sunak war eine Konfrontation nicht der richtige Weg, schon allein, weil das britische House of Lords einen allzu kontroversen Gesetzesvorschlag abschießen würde. Als Technokrat beschloss er, diesen Problemfall pragmatisch zu lösen. Jetzt liegt da ein Deal, den auch Johnson sofort unterzeichnet hätte, auch wenn er das nicht so leicht zugeben würde.“