Türkei: Was würde ein Machtwechsel bedeuten?
Kurz vor der Präsidentschafts- und Parlamentswahl in der Türkei am Sonntag sieht es weiter nach einem knappen Rennen zwischen dem seit Langem amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seinem Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu aus. Kommentatoren fragen sich, was ein Wahlsieg des Oppositionsbündnisses über Erdoğan und seine AKP für Europa verändern würde.
Eine echte Schicksalswahl
Politiken hofft auf einen Sieg des Herausforderers:
„Nicht nur um der Türkei willen wäre ein Machtwechsel gut. Wenn die Türken Erdoğan vor die Tür setzen, wäre das auch eine gute Nachricht für die EU und die westliche Welt. Die Türkei wird ihren Widerstand gegen einen Nato-Beitritt Schwedens aufgeben, und Kılıçdaroğlu hat versprochen, dass das Land die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erneut respektieren wird. Alles in allem wird ein Machtwechsel allein viel dazu beitragen, das sehr angespannte Verhältnis der Türkei sowohl zur EU als auch zu den USA zu verbessern. Generell wäre der Sturz Erdogans ein Sieg für die Demokratie.“
Es wird kompliziert bleiben
Eine Abwahl Erdoğans würde nicht zwingend bessere Beziehungen der Türkei zum Westen bedeuten, gibt das Handelsblatt zu bedenken:
„Kemal Kilicdaroglu hat ... bereits angekündigt, im Falle eines Wahlsiegs an den außenpolitischen Prinzipien Erdogans festzuhalten. Das heißt: keine Russlandsanktionen, keine allgemeine Westbindung. Die knapp vier Millionen syrischen Migranten in der Türkei will er schleunigst zurückschicken. Viele davon werden lieber per Schlauchboot in die EU reisen. Die Beziehungen werden auch nach einem Machtwechsel kompliziert bleiben. Eine kohärente Türkeipolitik des Westens, an der es bisher mangelt, ist wichtiger denn je - egal, wer das Land regiert.“
Ein anderes Land mit Kılıçdaroğlu
Sollte Kılıçdaroğlu gewählt werden, steht die Türkei in jedem Fall vor einer historischen Wende, betont De Standaard:
„Sollte er gewählt werden, dann wird zweifellos schnell deutlich werden, dass auch der liebenswerte Kılıçdaroğlu seine Schwächen und schlechten Gewohnheiten hat. Tatsache ist aber, dass der Kurs, den der Oppositionsführer angibt, aus der Türkei ein anderes Land machen wird. Respektvoller für die Diversität der eigenen Bevölkerung, glaubwürdiger und weniger empfindlich in Bezug auf Europa. Was er verspricht, ist nichts weniger als eine Wende.“
Bei der Flüchtlingsfrage einig
Nach den Wahlen könnte sich der Migrationsdruck auf die EU erhöhen, fürchtet Aktuality.sk:
„Auch wenn die beiden Favoriten der türkischen Präsidentschaftswahl in fast allem unterschiedlicher Meinung sind, sind sie sich in einem Thema einig: Beide wollen syrische Flüchtlinge so schnell wie möglich nach Hause schicken. ... Die Syrer reagieren darauf mit Unmut. Sie werden nicht nach Hause zurückkehren und planen stattdessen weitere Versuche, EU-Staaten zu erreichen. Wenn der Sieger der Präsidentschaftswahl wirklich auf der Rückkehr syrischer Flüchtlinge in ihre Heimat besteht, könnte die Situation zu ihrem Exodus nach Europa ausarten. Am Ende könnte die Europäische Union bei den türkischen Wahlen verlieren.“
EU könnte neues Problem bekommen
Unter einer neuen Regierung könnte das Thema EU-Beitritt wieder aufs Tapet kommen, erklärt The Irish Times:
„In der jüngeren Vergangenheit fällt die Bilanz der AKP und von Präsident Erdoğan problematisch aus: Politische Unterdrückung, galoppierende Inflation, Währungsverfall und eine langsame Reaktion auf das katastrophale Erdbeben im Februar. Ein Sieg von Kemal Kılıçdaroğlu würde in Europa wohl größtenteils begrüßt werden. Es besteht jedoch die Gefahr von Unruhen, wenn die AKP das Ergebnis nicht akzeptieren sollte. Ein Sieg der Opposition könnte auch den Beitritt der Türkei zur EU wieder auf die Tagesordnung setzen - worüber sich nicht alle derzeitigen EU-Mitgliedsstaaten freuen würden.“