Russland: Hat Putin die Zügel noch in der Hand?
Nach dem abgebrochenen Wagner-Aufstand diskutiert Europa, wie tief die Risse im System Putin sind. Söldner-Chef Prigoschin, der sich in Belarus befindet, veröffentlichte am Montag auf Telegram eine Nachricht, in der er um Unterstützung warb und weitere Siege versprach. Zudem verschwand vergangene Woche der russische Topgeneral Sergej Surowikin.
Seine bisher größte Herausforderung
Russland bleibt angeschlagen, beobachtet Le Temps:
„Kein Regime, auch kein demokratisches, kommt nach einem Putschversuch unbeschadet davon. Es dringen unweigerlich Racheakte, Anschuldigungen, Verfolgungen und die Suche nach potenziellen inneren Feinden in die Machtmechanismen ein. Eine Säuberungsaktion folgt der nächsten, die Freiräume werden eingeschränkt, alles verschärft sich immer mehr. Erdoğans Türkei ist ein gutes Beispiel dafür, Russland wird es nach dem Wagner-Aufstand ähnlich ergehen. Der Putsch ist gescheitert, aber das Unbehagen bleibt. Es geht um die Kriegsführung. Wladimir Putin tritt nun in die schwierigste Phase seiner Herrschaft ein.“
Imperium kollabieren lassen
LRT schreibt:
„Dieses verrottete Imperium ist schon lange nicht mehr in der Lage dazu, sich an irgendwelche Regeln zu halten und tötet seine Nachbarn. Wenn es zu kollabieren beginnt, gibt es daher keinen Grund, sich einzumischen. Es ist nicht zu befürchten, dass die Ukraine die entsprechenden Unruhen ausnutzen wird. ... Ein Grund mehr, nicht den Fehler zu wiederholen, Putin konservieren zu wollen, wie es mit Gorbatschow einst gemacht wurde - als vermeintlichen Garanten für die Stabilität des Imperiums. 'Aber Atomwaffen!' - murrten die Außenminister von Luxemburg und Österreich. Selbst [der EU-Außenbeauftragte] Josep Borrell erklärt, dass ein schwächerer Putin eine noch größere Gefahr für die Welt darstellen würde. ... Es gibt eine Sache, die wir gut verstehen: Blutige russische Imperien fallen, wenn sie beginnen, gegen sich selbst zu kämpfen.“
Er schwächelt auch dank dem Westen
Für Prospect Magazine ist der Putschversuch gegen Putin ein Indiz dafür, dass ein Sieg der Ukraine möglich ist:
„Vor sechzehn Monaten schien das noch unwahrscheinlich. Durch den mutigen Widerstand von Wolodymyr Selenskyj und unsere Hilfe wurde verhindert, dass die gesamte Ukraine überrannt und ihre demokratische Regierung gestürzt wurde. Aber es schien schier unvorstellbar, dass man Putins Armee und Söldner gänzlich und schnell vertreiben würde. Jetzt zeichnet sich ab, wie leicht das geschehen könnte. Nämlich durch den Sturz Putins, der jeden Moment möglich ist. ... Der Widerstand der Ukraine und die zunehmende westliche Unterstützung haben diese akute Verwundbarkeit ermöglicht, was unsere Ukraine-Politik vollständig rechtfertigt.“
Vielsagendes Schweigen
Wie isoliert Putin ist, analysiert Politologe Konstantin Sonin in Nowaja Gaseta Ewropa anhand der Reaktionen während des Aufstands:
„Für Putin war dieser Tag besonders rufschädigend: Weder in Rostow am Don, noch in Woronesch, noch in Moskau gab es Proteste gegen diese Herausforderung seiner Macht. Während mehrerer Stunden nach seiner morgendlichen Ansprache gab es kein Wort der Unterstützung von anderen Politikern - Moskaus Bürgermeister Sobjanin, Ministerpräsident Mischustin und Außenminister Lawrow drückten sich sogar gänzlich vor Kameras und Mikrofonen. Diese Pause zeigt deutlich, dass Russlands politische Elite bereit ist für einen Führungswechsel - und mehr noch: für einen gewaltsamen Wechsel.“
Moskaus Elite fühlt sich nicht mehr sicher
Prigoschin hat Putins Ruf der Unbesiegbarkeit beschädigt, kommentiert Milliyet, nutzt für die Argumentation aber Informationen, die nicht überprüfbar sind:
„Ihm ist es gelungen, jene Aura zu zerstören, die symbolisch für Putin ist und für Stabilität steht und mit deren Hilfe dieser seine Ein-Mann-Herrschaft aufrechterhalten konnte. So sehr, dass sich am Wochenende Putin, Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Gerassimow sowie wichtige Kommandeure und Sicherheits- und Geheimdienstbeamte, aber auch Moskaus wohlhabende Elite und Oligarchen aus dem Staub gemacht haben. Man spricht davon, dass diese Menschen Putin nicht mehr als 'Garant für die Stabilität des Landes' ansehen können.“
Putin wird seine Schlüsse ziehen
Jene, die glauben, der Anfang vom Ende der Ära Putin sei gekommen, könnten sich zu früh gefreut haben, warnt die Süddeutsche Zeitung:
„Putin ist jemand, der aus Krisen lernt. ... [Er] hat gesehen, was passieren kann, und wird seine Schlüsse daraus ziehen. Wer hat sich loyal gezeigt, wer hat geschwiegen? Wer muss seinen Posten räumen? Welche Fehler hat der Geheimdienst gemacht? ... Entweder fühlen sich Putins Gegner jetzt ermutigt. Oder aber die Krise macht ihn widerstandsfähiger gegen seine Feinde. Was sicher kommt, sind mehr Repressionen. Zu viele einfache Leute haben Sympathie gezeigt für Prigoschins Wut auf Moskau. Wie man reagiert, wenn das Volk meutert, hat Putin von einem anderen schon totgesagten Diktator gelernt: mit Gewalt.“
Nur ein Hauch von 1917
Die Parallelen mit Russland kurz vor dem Ende der Zarenherrschaft sind gegeben, aber begrenzt, analysiert The Irish Times:
„Als leidenschaftlicher Student der russischen Geschichte wird sich Putin sorgenvoll an den dramatischen Zusammenbruch der Armeemoral im Februar 1917 in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs erinnert fühlen. Die Soldaten wollten damals einfach nicht mehr kämpfen. Sie klagten über ähnliche Missstände wie die heutigen russischen Streitkräfte: inkompetente und gleichgültige Offiziere, Versorgungschaos, brutale Disziplinarmaßnahmen - und ein Oberkommando, das bereit war, unerfahrene Rekruten auf Schlachtfeldern in den sicheren Tod zu schicken. ... Doch anders als 1917 befindet sich die russische Gesellschaft nicht an einem Wendepunkt. Das Kräfteverhältnis fällt immer noch zu Putins Gunsten aus.“
Das Kartenhaus wackelt
Für Pravda sind die Folgen des vergangenen Wochenendes für Putin überhaupt noch nicht abzusehen:
„Gewonnen hat Putin nichts. Im Gegenteil. ... In der Zukunft werden wir vielleicht feststellen, dass die aktuellen Ereignisse der Anfang von seinem Ende waren. Putins Regime ist ein Kartenhaus, das auf dem Fundament militärischer Unbesiegbarkeit und innerer Stabilität steht. Der ukrainische Widerstand höhlte die erste Säule aus, Prigoschin die zweite. Wenn Zehntausende Vagabunden widerstandslos durch Russland ziehen, ihre eigenen Landsleute töten und am Ende mit Anerkennung daraus hervorgehen können, dann ist das eine Einladung zum Wiederkommen.“
Je schlimmer, desto besser
Die Unruhen in Russland sind gute Nachrichten, schreibt der Experte für Sicherheitspolitik Edward Lucas bei Alfa:
„Die größte Hoffnung auf einen schnellen und günstigen Ausgang des Krieges besteht darin, dass sich militärische Rückschläge und politische Umwälzungen in Moskau gegenseitig verstärken. Die Unruhen im Landesinneren zerstören den Kampfgeist an der Front. Wenn Desertionen, Meutereien und Kapitulationen zunehmen, werden die Entscheidungsträger abgelenkt und die Fäulnis breitet sich aus. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies geschieht, mag gering sein, aber sie hat sich gerade erhöht. Unter diesem Gesichtspunkt ist es umso besser, je schlimmer die Lage in Russland ist.“