EU: Debatte um knappes Ja zum Renaturierungsgesetz
Mit 336 zu 300 Stimmen hat das Europaparlament am Mittwoch einer Vorlage zugestimmt, gefährdete Ökosysteme in der EU wiederherzustellen. Die Europäische Volkspartei (EVP), Rechtskonservative (EKR) und Rechtsaußenparteien (ID) hatten sich vehement gegen das Gesetz positioniert, am Ende stimmten jedoch auch Abgeordnete der EVP und EKR dafür. Ein Erfolg für Umwelt und Politik oder Etikettenschwindel?
Der Kreuzzug ist gescheitert
Bei der Abstimmung ging es um mehr als Umweltschutz, erklärt La Repubblica erleichtert über das Ergebnis:
„Der Versuch der europäischen Rechten, die EVP in einen Anti-Umwelt-Kreuzzug zu verwickeln, ist gescheitert. ... Das beispiellose Bündnis zwischen der Europäischen Volkspartei und der antieuropäischen Rechten, sowohl der von Meloni geführten Rechtskonservativen als auch der populistischen Extremisten Salvini und Le Pen, hat es nicht geschafft, das Rückgrat der EU-Regierung zu brechen. Webers skrupelloses Projekt, die EVP als politisches Zünglein an der Waage zu positionieren, das in der Lage ist, von Zeit zu Zeit Mehrheiten mit der Rechten oder mit Sozialisten, Grünen und Liberalen zu bilden, hat den Test der Zahlen nicht bestanden.“
Sieg über kurzsichtige Politik
Die Niederlage der EVP ist ein Gewinn für Europas Ökosysteme, freut sich die Süddeutsche Zeitung:
„Verdorrte Wälder haben keine Zeit für Moratorien. Wildbienen können sich nicht gedulden, bis die Bauern wieder Luft haben für ein bisschen mehr Umweltschutz-Gesetzgebung. Die Klimakrise stellt existenzielle Fragen, sie kann eine der größten Bedrohungen für den gesellschaftlichen Frieden in Europa werden. Sie ist die wahre Gefahr für die Ernährungssicherheit. Man habe zuletzt viel ambitionierten Umwelt- und Klimaschutz betrieben, sagte Weber am Mittwochmorgen, 'aber wir verlieren Arbeitsplätze und Wohlstand'. Wer so redet, macht kurzsichtige Politik.“
Wissenschaftliche Fakten setzen sich durch
Das Ja kam für viele unerwartet, beobachtet hvg:
„Für die Gegner des Gesetzes, unter anderem für [die ungarische Regierungspartei] Fidesz, war es eine Überraschung, dass das Europäische Parlament mit knapper Mehrheit dafür gestimmt hat. ... Der Naturschutz und der überwältigende wissenschaftliche Konsens haben gesiegt. ... Es stehen noch schwierige Verhandlungen vor den Verhandlungspartnern, aber das Gesetz hat die erste große Herausforderung erfolgreich überstanden und ist auf dem besten Weg zur Umsetzung.“
Geld siegt über Vernunft
Le Courrier hält das neue Gesetz für Augenwischerei und sieht darin den Beleg, dass wirtschaftliche Interessen Vorrang haben:
„Man könnte von Verleugnung sprechen, denn solche Ziele wurden bereits im Dezember letzten Jahres auf der COP 15 zur Biodiversität vereinbart. Vor allem das Ziel, bis 2030 30 Prozent der Land- und Meeresflächen der Erde zu schützen. Aktuell sind es nur 17 Prozent. Es ist besonders aufschlussreich zu sehen, wie das EU-Parlament Verzögerungstaktiken einsetzt und missbraucht, um diese Ziele zu verfehlen. Die Lobbys der Agrar- und Lebensmittelriesen haben es vorgemacht. Sobald es um wirtschaftliche Interessen geht, weicht die Vernunft der Kohle.“
Ohrfeige für die EVP
Für den Kurier ist die Totalblockade des Gesetzes krachend gescheitert:
„Als Frontman all jener, denen der Kampf gegen den Klimawandel zu schnell geht und die Vorgaben aus Brüssel zu radikal sind, hat sich EVP-Chef Manfred Weber positioniert. ... Was dazu führte, dass dieser Gesetzesvorschlag ... zum Brennpunkt eines regelrechten Kulturkampfes geriet: Die EVP als selbst ernannte Sprecherin der Bauern und Landbevölkerung gegen die Städter, Grüne, Linke und 6.000 Wissenschaftler. Mit ... Angstmache hat die EVP dabei nicht gespart. ... Das Gesetz wird nun mit den EU-Regierungen weiter verhandelt. Und es wird kommen. Für die EVP, die mit dem Schielen auf Wählerstimmen auf Totalblockade gesetzt hatte, ist dies eine heftige Ohrfeige.“
Enttäuschender Kompromiss
Ein knappes Ja zu einer verwässerten Vorlage – das ist enttäuschend, findet Irish Examiner:
„Einige der wichtigsten Klauseln und Ziele wurden entfernt. ... Aber die Klima- und Biodiversitätskrise macht nicht vor Intrigen, Abstimmungen oder Zeitplänen halt. Sie respektiert keine politischen Zyklen und legt keinen Wert auf politische Kompromisse. ... Wenn die Natur schwächer wird, werden extreme Wetterbedingungen stärker. Mehr als 80 Prozent der geschützten Lebensräume sind laut der Europäischen Umweltagentur in schlechtem Zustand. ... Aber selbst diese düsteren Zahlen reichten fast der Hälfte der Politiker im Europäischen Parlament nicht aus, um die Wiederherstellung der Natur zu unterstützen.“
Umweltschutz ist die neue große Trennlinie
Corriere della Sera analysiert:
„Wie die 'demokratische Frage' im 19. und die 'soziale Frage' im 20. Jahrhundert schickt sich die 'grüne Frage' an, die große Trennlinie zwischen rechts und links in den 2000er Jahren zu werden. ... Die Große Koalition, die die von der Leyen-Kommission getragen hat, ist zerbrochen: Webers Bürgerliche versuchten den Coup, sich mit den Rechten zu verbünden, um das Projekt scheitern zu lassen, während die Linke das Gesetz geschlossen unterstützte. ... Die ökologische Transformation scheint wie dafür gemacht, die reichen Gesellschaften auf der Grundlage materieller Interessen, die einst als 'Klasseninteressen' bezeichnet wurden, zu spalten.“