Krieg in Nahost: Wie auf die Gewalt reagieren?
Nach dem brutalen Angriff der radikal-islamischen Hamas bereitet Israel eine groß angelegte Bodenoffensive vor und hat alle Zivilisten aufgefordert, den Norden des Gazastreifens zu verlassen. Die EU plant eine Luftbrücke für humanitäre Hilfe nach Gaza, US-Präsident Biden und Bundeskanzler Scholz planen Besuche in Israel. Europas Presse diskutiert, wie Israel in Gaza vorgehen sollte und welche Solidarität geboten ist.
Es gibt noch Hoffnung
Das Webportal In rät dazu, innezuhalten und besonnen zu agieren:
„Die internationale Gemeinschaft zögert. Dies ermöglicht reife und vernünftige Gedanken. … Ein umfassenderes Verständnis der internationalen Gemeinschaft, einschließlich der Länder der Region, das darauf abzielt, die Schuldigen zu bestrafen, dafür zu sorgen, dass Israel nicht bedroht und gefährdet wird, und vor allem einen Prozess zur Lösung der palästinensischen Frage im Hinblick auf die Gründung eines palästinensischen Staates einzuleiten, könnte viel mehr erreichen und vor allem einen Weg zum Frieden eröffnen. Solange keine groß angelegten Militäroperationen eingeleitet werden, gibt es Raum für eine solche Richtung.“
Israel wird verantwortlich handeln
Auch diesmal verfehlen israelkritische Stimmen das eigentliche Thema, findet Jyllands-Posten:
„Mit der Relativierung von Hamas-Massakern ('Israel ist selbst schuld') geht meist die Forderung einher, Israel möge beim Vergeltungsschlag keine unproportionale militärische Gewalt anwenden. Das ist, als würde man verlangen, dass sich Israel in den von der Hamas aufgezwungenen Überlebenskampf mit einem gefesselten Arm begibt. Israel hat natürlich wie jeder andere Staat das Recht, sich zu verteidigen - wenn auch mit größtmöglicher Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Im Gegensatz zur Hamas wird sich Israel dieser Verantwortung bewusst sein. Allerdings sollte man sich keine Illusionen machen: Der Konflikt kann nur politisch gelöst werden.“
Standhaft gegen Todeslogik der Hamas bleiben
Göteborgs-Posten bemerkt:
„Die [sich systematisch hinter Zivilisten verschanzende] Hamas lässt sich nicht von moralischen Skrupeln aufhalten. Und doch sind sie für Israel ein Muss. ... Wenn Blockade und Bombardements in die humanitäre Katastrophe führen, wird dies Israels militärische Verwundbarkeit eher erhöhen, statt sie zu mindern. Israel würde einen Großteil der Unterstützung im Westen verlieren, der Hass in der arabischen Welt würde in ungeahnte Höhen schnellen, im schlimmsten Fall gäbe es einen Krieg in der Region. Genau das wünscht sich wahrscheinlich die Hamas. Sie verbucht es nämlich als Sieg, wenn Israel zerstört wird - selbst wenn im Zuge dessen sämtliche Palästinenser sterben. Deshalb kann man gegen die Hamas nicht gewinnen, indem man sich ihre Todeslogik zu eigen macht.“
Spagat des Westens
Der Westen steht vor der schwierigen Aufgabe, den Terrorismus der Hamas zwar zu verurteilen, das Schicksal der Palästinenser jedoch nicht aus den Augen zu verlieren, kommentiert Kolumnist Pierre Haski in France Inter:
„Die wichtigsten westlichen Länder haben ein Problem: Ihre Unterstützungsbekundungen für Israel, die nach dem grausamen Angriff der Hamas am 7. Oktober logisch und gerechtfertigt waren, werden nun mit dem Ausmaß und den Methoden des israelischen Gegenschlags in Gaza konfrontiert. Das zwingt sie zu einem unbequemen Spagat, der sich noch vergrößern könnte, sobald Israel seine Bodenoffensive startet.“
Internationale Verwaltung Gazas wäre ein Weg
Was nach dem Krieg mit dem Gazastreifen passieren soll, wenn weder eine israelische noch eine palästinensische Verwaltung Sinn ergibt, erörtert die taz:
„Vielleicht liegt der dritte Weg dort, wo er vor 75 Jahren endete: in der internationalen Treuhandschaft, die in Palästina vor 1948 unter britischer Verwaltung existierte, im Namen erst des Völkerbunds und dann der Uno. ... Internationale Treuhandschaften gab es weltweit immer wieder, bis in die jüngere Gegenwart, von Namibia bis Palau, zuletzt in Osttimor unter UN-Verwaltung vom Abzug Indonesiens 1999 bis zur Unabhängigkeit 2002. ... Wäre eine internationale Verwaltung für Gaza also ein denkbarer Weg? ... Wenn nicht, was dann? ... [O]hne eine politische Vision gibt es am Ende nur Trümmer- und Leichenberge. Auf beiden Seiten.“
Auf beide Seiten einwirken
Die EU hat ein starkes Interesse, die Ausweitung des Konflikts zu verhindern, warnt De Volkskrant:
„Olivier Véran, der Sprecher der französischen Regierung, rief dazu auf, den Konflikt nicht nach Europa zu 'importieren'. Das muss sicherlich verhindert werden. Europa kann selbst dazu beitragen mit einer ausgewogenen Politik des Mittleren Ostens. Europas geopolitischer Einfluss in der Region ist begrenzt, aber es gibt ihn. Die EU ist Israels wichtigster Handelspartner und der größte Geldgeber in den palästinensischen Gebieten. Diese Position sollte aktiver genutzt werden, vor allem um Israel unter Druck zu setzen, die Rechte der Palästinenser anzuerkennen.“
Finanzierungsquellen des Terrorismus stilllegen
Ein Kollektiv iranischer und europäischer Persönlichkeiten ruft in Le Monde dazu auf, härter gegen den Iran vorzugehen:
„Um die Ausbreitung des Terrorismus im Nahen Osten zu bekämpfen, reicht es nicht aus, die Angriffe der Hamas zu verurteilen. Vielmehr müssen auch ihre Finanzierungsquellen stillgelegt werden. ... Die politische und wirtschaftliche Isolierung des islamischen Regimes im Iran und die Aufnahme der Revolutionsgarden in die Liste der Terrororganisationen würden de facto seine Möglichkeiten zur Unterstützung fundamentalistischer und antidemokratischer Strömungen verringern und so zu einem dauerhaften Frieden in der Region beitragen. 'Frau, Leben, Freiheit', der Slogan der iranischen Protestbewegung, ist auch ein Schritt in Richtung eines befriedeten Nahen Ostens.“
Europa offenbart seine Bedeutungslosigkeit
Einen Sieger und einen Verlierer sieht La Stampa schon jetzt:
„Der Iran, der das Gemetzel der Hamas absegnet und gleichzeitig erklärt, er sei nicht daran beteiligt, profitiert von zwei Ergebnissen: der Aussetzung der Abkommen zwischen Israel und den Saudis und dem Nachlassen des internationalen Drucks auf die rücksichtslose Beschneidung der Bürgerrechte, angefangen bei den Frauenrechten, in Teheran. Europa dagegen bestätigt einmal mehr seine Nichtexistenz. Das Fehlen einer gemeinsamen Verteidigung und einer gemeinsamen Strategie, die durch die einhellige Ablehnung jeglicher Zukunftsvision und durch rückschrittliche und immer weiter verbreitete nationalistische Impulse unmöglich gemacht wird, hindert es daran, eine bedeutende Rolle zu spielen.“
Zweistaatenlösung vorantreiben
Langfristig gibt es für La Libre Belgique nur einen Ausweg aus der Gewaltspirale:
„In einer Zeit, in der wir den Verfall in einen gewaltigen und doch unfruchtbaren Radikalismus beobachten, ist es unerlässlich, die legitimen Vertreter beider Seiten daran zu erinnern, dass sie eines Tages den Weg der Mäßigung einschlagen und eine gemeinsame Basis finden müssen. Diese Basis kann nur eine Lösung auf Grundlage zwei unabhängiger und lebensfähiger Staaten sein, die Seite an Seite in Frieden leben. Nur diese Lösung kann Sicherheit für beide Völker gewährleisten. ... Die internationalen Akteure, die sagen, dass sie zur Lösung dieses Konflikts beitragen wollen, haben die Pflicht, Israelis und Palästinensern dabei zu helfen, ja sie dazu zu motivieren, diese Basis zu finden.“
Sich verteidigen, ohne zu Unmenschen zu werden
Die Salzburger Nachrichten sehen Israel im Dilemma:
„Wie ... bekämpft man Barbaren, ohne selbst einer zu werden? Wie durchbricht man menschliche Schutzschilde, hinter denen sich die Hamas versteckt, ohne selbst unmenschlich zu werden? Vor diesen Fragen stehen alle Staaten, die es mit Terroristen und Geiselnehmern zu tun haben. Die israelische Armee muss sie sich ebenfalls stellen. Obwohl die Zerschlagung der Hamas derzeit wohl für viele Israelis die oberste Priorität hat; obwohl sie jedes Recht bei ihrem Militär sehen, mit voller Härte gegen die Terroristen zurückzuschlagen. Doch jedes Recht hat Israel nicht.“
Tunnelsystem minimiert Israels Überlegenheit
Die Hamas ist auf eine Bodenoffensive gut vorbereitet, mahnt Financial Times:
„Die Gruppe wird von den Erfahrungen terroristischer Gruppen in Syrien und Irak und aus eigenen früheren Kämpfen gelernt haben. ... Die israelische Armee verfügt nur über begrenzte Informationen zu Standorten und Routen der Tunnel sowie den Aktivitäten, die dort stattfinden. Unter der Erde funktionieren herkömmliche GPS-, Überwachungs- und Nachtsichtsysteme nicht. Tunnel erhöhen das Risiko von Überraschungsangriffen, Entführungen, Sprengfallen und Zweikämpfen. Nur wenige Soldaten kommen in dieser klaustrophobischen, dunklen und unberechenbaren Umgebung zurecht. Kurz gesagt: Die Tunnel sind ein Gleichmacher, der Israels taktische, technische und organisatorische Überlegenheit neutralisiert.“